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12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen
414 [ … ] eine Wiedereinbindung der Menschheit in die Natur , eine Wiederherstellung der Ach-
tung vor dem Eros und den Gefühlen , für wirksame übernationale Institutionen , für eine
Milderung der herkömmlichen Klassen- , Rassen- und Geschlechtsgegensätze , eine Aner-
kennung des Pluralismus in den Wissenschaften und eine endgültige Absage an die philo-
sophische Suche nach Gewißheit. ( Toulmin 1990 [ 1994 , 256 ])
Mit den meisten Punkten hätten sich viele Mitglieder des Wiener Kreises einverstan-
den erklärt , obgleich sie nicht alles als Aufgabe der Wissenschaften verstanden wissen
wollten. Der Humanismus war zwischen 1914 und 1965 entgegen Toulmins Analyse kei-
neswegs untergegangen , auch in Moral und Ethik nicht. Nicht erst in den 1960er-Jahren
waren Menschen bereit , sich dem „humanen und liberalen Standpunkt der Spätrenais-
sance zuzuwenden“ ( Toulmin 1990 [ 1994 , 258 ]). Wiewohl beides für Toulmin und seine
Generation in den USA noch verdeckt gelegen haben mochte bzw. gar verdeckt gehal-
ten wurde , in welchem Zusammenhang wiederum auf Reisch 2005 hingewiesen werden
muss. Toulmins Feststellung „Wir sind nicht zu einer Wahl zwischen dem Humanismus
des 16. Jahrhunderts und der exakten Wissenschaft des 17. Jahrhunderts gezwungen ; viel-
mehr sollten wir an den positiven Leistungen beider festhalten“ ( Toulmin 1990 [ 1994 ,
288 ]) steht dem Geist der Programmschrift des Wiener Kreises sehr nahe. Insbesonde-
re die Praktische Philosophie war von 1630 bis 1945 oder gar 1965 nicht verschwunden ,
wie Toulmin annimmt :
Nach 1630 übergingen die Philosophen die konkreten , zeitgebundenen , partikulären Fragen
der praktischen Philosophie und beschäftigten sich mit abstrakten , zeitlosen und universa-
len ( d. h. theoretischen ) Fragen. ( Toulmin 1990 [ 1994 , 297 ])
Entgegen dieser Diagnose wurden die praktischen Fragen immer wieder einmal zurück-
gedrängt und brachen dann wieder hervor , wie in den 1880er-Jahren in der Ethischen Be-
wegung , an der auch die philosophische Ethik Teil hatte und die im Wiener Kreis am
stärksten bei Schlick und Kraft ( nach- )wirkte. Dies muss jedoch erst wieder zur Kenntnis
genommen werden , wozu diese Untersuchung ihren Beitrag leisten will. Die Angewand-
te Ethik ist keine Neuschöpfung der 1960er-Jahre , nicht einmal das Wort „Angewand-
te Ethik“ bzw. das englischsprachige Pendant „applied ethics“. Frühere Phasen sind nur
nicht oder kaum mehr im philosophischen Gedächtnis. Wer die Praktische Philosophie
auch in ihren örtlich und zeitlich gebundenen Fragen ernst nimmt , muss nicht fast 400
Jahre zurückgehen , um in der Philosophie anschließen zu können. Mit folgender Analy-
se liegt Toulmin nach zwanzig Jahren und vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vor-
liegenden Untersuchung hingegen noch immer richtig :
Wenn also die Philosophen heute wieder Gebiete ernst nehmen , die Descartes in der Ab-
handlung über die Methode als zu seicht abtat , so ist das kein Zufall ; und es ist auch kein
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441