Seite - 415 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen
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Zufall , daß sich heute immer mehr Philosophen an Diskussionen über Umweltpolitik oder
medizinische Ethik , Rechtspraxis oder Atompolitik beteiligen. Manche tun das mit Freu-
de ; andere blicken auf 300 Jahre Fachtradition zurück und fragen sich , ob sie sich wirklich
auf mündliche , besondere , lokale und zeitgebundene Fragen einlassen sollen. Sie fürchten , in
der „angewandten“ Philosophie ihre Fähigkeiten zu verschleudern und von den technischen
Fragen der eigentlichen akademischen Philosophie abgelenkt zu werden. Doch man könnte
sagen , diese praktischen Diskussionen seien heute keine „angewandte“ Philosophie , sondern
die Philosophie selbst. Genauer sind sie heute ( wie Wittgenstein sagte ) die „legitimen Erben“
des rein theoretischen Unternehmens , das da Philosophie hieß ; und wenn man ihnen nach-
geht , reißt man die 300 Jahre alten Schranken zwischen „Praxis“ und „Theorie“ nieder und
betritt das fachliche Kerngebiet der Philosophie wieder aus einer neuen und produktiveren
Richtung. ( Toulmin 1990 [ 1994 , 304 ])
Sie sind ebenso legitime Erbinnen und Erben der Philosophie und selbst des Wiener
Kreises.540
Die Einordnung der Moral und Ethik im Wiener Kreis in die Tradition aufgeklärter ,
humanistischer Ethik muss nicht revidiert werden , sehr wohl jedoch eine pauschale Zu-
ordnung zu ihrer individualistischen Variante. Damit verbietet sich eine undifferenzier-
te Zuschreibung der Ablehnung normativer und inhaltlicher Ethik sowie eines extremen
Nonkognitivismus. Eine gegenwärtige systematische Ethik , die Moral als Gemeinschafts-
praxis begreift , steht einigen im Wiener Kreis näher , als die vorherrschende Sicht sugge-
rieren möge. Wer innerhalb der Analytischen Ethik meint , mit engem Bezug zur Tradi-
tion nur Carnap folgen zu können und Ethik als suspektes Unternehmen betrachten zu
müssen , irrt. Auch abweichende Auffassungen finden bereits Vorläufer im Wiener Kreis.
Nicht zuletzt war Ethik in der Tradition Analytischer Philosophie nicht immer so margi-
nalisiert , wie sie es in so manchen ihrer Teilrichtungen heute noch ist und Gegnerinnen
wie Gegner der Analytischen Philosophie ihr vorwerfen. Die vorliegende philosophisch-
geschicht liche Untersuchung liefert die nötige Revision dieser verfänglichen Fehlentwick-
lung. Wenn Nemeth schreibt :
Die Geschichte des Wiener Kreises war von Anfang an die Geschichte der Ausgrenzung ei-
nes Denkens , das sich an den empirischen Wissenschaften , an der Logik und der Mathema-
tik orientierte ( Nemeth 1994 , 120 ),
540 Bis zu einem bestimmten Grade folgt diese Untersuchung auch der historischen Herangehenswei-
se , die Toulmin vorschlug : „Hin und wieder steigen große Philosophen wie Götter vom Olymp he-
rab und mischen sich unter die Menschenwelt. Statt philosophische Texte immer in einer zeitlosen
und abstrakten Stratosphäre zu lesen , sollte man die Diskussion lieber ‚rekontextualisieren‘ und Des-
cartes und Leibniz zugestehen , daß sie ihren Geist auch von wichtigen ‚äußeren Ereignissen‘ ihrer
Zeit bewegen ließen.“ ( Toulmin 1990 [ 1994 , 148 ])
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441