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1.3 Thematische Eingrenzungen
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ruhiger Gelassenheit als solche bezeichnet und bald wieder zurückgestellt“.19 Sie wurden
als außerwissenschaftliche Fragen gesehen :
Man befand sich eben in einer glücklichen Mittellage , halbwegs zwischen dem für die libe-
rale Position so charakteristischen Bedürfnis nach wissenschaftlicher Begründung auch des
Unbegründbaren und der damit Hand in Hand gehenden Überschätzung der Wissenschaft
einerseits und der so ungerechtfertigten Verachtung und Unterschätzung des wissenschaft-
lichen Denkens und der Ratio überhaupt , die mit der gegenwärtigen Verfinsterung der Welt
um sich greift , andererseits. ( Bergmann 1936 [ 2006 , 648 ])
Authentische Zeugnisse über das im Kreis Diskutierte liegen ohnehin wenige vor. Es wur-
de eine unvollständige Liste der Sitzungen von 1927 bis 1932 aus den Tagebüchern Carnaps
rekonstruiert. Lebenspraktische Themen sind darin nicht ausdrücklich angeführt. ( Stadler
1997a , 7. 1. 1.2 ) Lediglich für die Zeit von Dezember 1930 bis Juni 1931 existieren detaillier-
te Sitzungsprotokolle , die von Rand angefertigt wurden , damals teilnehmende Studentin.
Auf Initiative Neuraths20 brachte Rand diese Notizen im Winter 1937/38 in die Form eines
100-seitigen Typoskripts , welches in Stadler 1997a ( 7. 1. 1.3 ) enthalten ist. Darin findet sich
nur wenig über Ethik.21 Darüber hinaus gibt es vereinzelt Protokolle einzelner Mitglie-
der. Grundlage dafür sind handschriftliche Aufzeichnungen , die vermutlich im Schlick-
Zirkel als eine Art Positionspapiere ausgelegt wurden. ( Stadler 1997a , 7. 1. 1.4 , 335 ff. ) Diese
bestehen aus kurzen Zusammenfassungen der Positionen von Carnap , Hahn , Kaufmann ,
Neurath , Schlick und Waismann , z. B. über Sinn , Verifizierbarkeit , Metaphysik und die
Aufgaben der Philosophie. Für die Ethik sind diese nur indirekt von Bedeutung. Wenn
19 „Das darf nun freilich nicht dahin ausgelegt werden , daß ihre einschneidende und unmittelbare Be-
deutung für den einzelnen und die Gesellschaft verkannt oder unterschätzt worden wäre.“ ( Bergmann
1936 [ 2006 , 648 ])
20 Neurath bezahlte Rand für diese Arbeit , wie er angeboten und sie gefordert hatte , und erbat weitere
Zuarbeiten für die Sammlung historischer Daten über den Zirkel , da sie eine der wenigen sei , die die
Geschichte des Kreises kenne ( Neurath an Rand , 29. Juni 1937 , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 287 ; ab-
gedruckt in : Stadler 1997a , 268 f. ). Rand hatte zwischen 1930 und 1935 regelmäßig an den Treffen des
Wiener Kreises teilgenommen und dissertierte 1937 bei Robert Reininger ( ihr ursprünglicher Doktor-
vater war Schlick gewesen ). Im Juni 1939 konnte sie als jüdische Staatenlose mithilfe Stebbings nach
England ausreisen. ( Stadler 1997a , 269 f. ) Zu Rands Situation in Wien und später im Exil siehe jüngst
auch Iven 2010 und McGuinness 2010. Iven berichtet von ihrem Kampf ums Überleben , da sie schon
ihr Studium selbst durch Unterricht finanzieren musste und keine philosophische Anstellung erhielt.
McGuinness hebt ihre Willenskraft , Individualität und ihren unbeugsamen Willen , philosophisch tä-
tig zu sein , hervor. Schließlich emigrierte Rand 1954 in die USA , wo sie ohne Aussicht auf eine akade-
mische Karriere 1980 verstarb. Ihre Situation blieb bis zu ihrem Tode prekär. Der Nachlass ( Rose Rand
Collection ) befindet sich an der University of Pittsburgh.
21 Für den 5. Februar 1931 findet sich eine kurze Bemerkung Carnaps über Schrödingers Aufsatz „Natur-
wissenschaft und Ethik“ in der Vossischen Zeitung vom 25. Juli 1930.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441