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1.5 Adressatenkreis und Rezeptionshintergründe
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prägt wurde und innerhalb der Analytischen Philosophie durch die Wissenschaftstheorie
Wolfgang Stegmüllers. An einer Darlegung des historischen Wiener Kreises , seiner the-
matischen Breite und Differenziertheit sowie seiner gesellschaftlichen Einbettung war
beiden nicht gelegen.
Nach der Emigration der Mitglieder des Wiener Kreises und anderer logisch-empi-
ristisch ausgerichteter Philosophinnen und Philosophen aus Österreich und Deutsch-
land kehrte die von ihnen stark beeinflusste Analytische Philosophie in den 1950er-Jahren
nach Deutschland als Wissenschaftstheorie zurück , als deren zentrales Merkmal die ana-
lytisch-logische Methode galt. Als treibende Kraft fungierte hierbei Stegmüller , der sich
nach Begegnungen mit Popper , Quine und Carnap der Analytischen Philosophie zuge-
wandt hatte. Seine Schülerinnen und Schüler konnten die deutsche Analytische Philoso-
phie in den folgenden Jahrzehnten , zunächst vor allem an den Universitätsneugründun-
gen Bielefeld , Konstanz , Regensburg und Osnabrück , maßgeblich prägen.26 Ihnen sind
nach Einschätzung seines „Erben“ Wolfgang Spohn folgende Stegmüller-Tugenden ge-
meinsam : ( 1 ) die hohe Wertschätzung formaler Methoden , ( 2 ) saubere Begriffsanalyse , ( 3 )
klare Argumentation und Offenheit gegenüber den Wissenschaften.27 Spohn spricht von
der „harten“ Analytischen Philosophie Stegmüllers im Unterschied zu einer „weichen“, die
sich in Amerika zunehmend ausbreite. ( Spohn 2004 im Gespräch „Wolfgang Stegmüllers
Erbe( n )“ [ ohne Autor ]) Besonders bekannt wurde Stegmüller nicht zuletzt durch sein
Werk Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie , das mehrere Auflagen erfuhr.28 Dieses
verfolgte jedoch kein historisches Interesse , auch nicht in den Teilen über die Philosophie
Carnaps und des Wiener Kreises.29 Die historischen Wurzeln und die internen Entwick-
lungen und Meinungsunterschiede im Wiener Kreis blieben ausgeblendet , vor allem auch
dessen Praktische Philosophie und die politischen Komponenten. Die reimportierte Ana-
lytische Philosophie hatte in der Zwischenzeit in den USA das praktische und wertori-
26 Als einzige Frau habilitierte sich 1996 Martine Nida-Rümelin unter Stegmüller. Weshalb die zahlrei-
chen Promovendinnen Stegmüllers sich nicht mehr unter Stegmüller habilitierten , ist bislang nicht
erforscht. Die Rolle Stegmüllers für die Rückkehr einer transformierten Wissenschaftstheorie in den
deutschsprachigen Raum wird jüngst in dem von Stadler herausgegebenen Band Vertreibung , Trans-
formation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmül-
ler ( Stadler 2010a ) detailliert dargelegt.
27 Als Idealbild drängt sich eine asketische Philosophie auf : Einfachheit , Klarheit , Reinheit , Beschei-
denheit , Zurückhaltung , Nüchternheit , Schlichtheit , Verzicht auf Buntheit , nichts Ausschweifendes ,
Genüssliches , nur das Notwendigste.
28 In allen Details wird die Entwicklung der Auflagen in Damböck 2010 ausgeführt.
29 Ähnlich dem Bild in der reimportierten Analytischen Philosophie gestaltet sich das Standardbild die-
ses Kreises in den angelsächsischen Ländern , wo das Bild zunächst von Ayer bestimmt wurde. Die
Philosophie des Wiener Kreises tritt dort als ein durch formale Mittel angereicherter britischer Em-
pirismus auf. ( Stöltzner / Uebel 2006b , XCIII ) In der Ethik wurde mit dem Wiener Kreis zu Unrecht
fortan ein extremer Emotivismus verbunden. ( Vgl. dazu Kapitel 3 der vorliegenden Untersuchung )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441