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3.3 Die Rezeption in der Analytischen Philosophie
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Wenn es einen Wert gibt , der Wert hat , so muß er außerhalb alles Geschehens und
So-Seins liegen. [ … ]
6.42 Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres aus-
drücken.
6. 421 Es ist klar , daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. ( Wittgenstein 1922 [ 2001 , 170 f. ])60
Wittgensteins Verifikationsprinzip als Sinnkriterium besagt ( in Carnaps Verständnis , dem
ich hier folge ), ( 1 ) dass „der Sinn eines Satzes durch die Bedingungen seiner Verifikati-
on gegeben ist“ und ( 2 ) dass „ein Satz dann und nur dann sinnvoll ist , wenn es mögli-
che , nicht notwendige Umstände gibt , die , träfen sie ein , die Wahrheit des Satzes end-
gültig begründen würden“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 70 ]).61 Das Verifikationsprinzip wurde bei
Carnap später durch das liberalere Bestätigungsprinzip ersetzt. 1936/37 zeigte er in „Testa-
bility and Meaning“ auf , dass Hypothesen über unbeobachtbare Ereignisse der physika-
lischen Welt niemals völlig durch Beobachtungszeugnisse verifiziert werden können. Der
Begriff der Verifikation sollte deshalb aufgegeben werden und stattdessen gesagt werden ,
eine Hypothese werde durch Belege mehr oder weniger bestätigt oder nicht bestätigt. Den
strengeren Begriff der Prüfbarkeit , der anwendbar ist , wenn bei einem bestätigungsfähi-
gen Satz noch ein Testverfahren angegeben werden kann , wies er als Sinnkriterium zu-
rück. ( Carnap 1963a [ 1993 , 91 f. ])62
Trotz der Ausnahme von Logik und Mathematik aus dem Verdikt der Sinnlosigkeit
traf es bei Carnap die Wert- und Normsätze der Ethik weiterhin :
Die Wert- und Sollsätze der Ethik ( und auch der Ästhetik ) trifft jedoch das Sinnkriterium
genauso wie die metaphysischen Sätze von allem Anfang an – nämlich bereits im Tracta-
tus
– mit voller Wucht , und dabei bleibt es auch bei Carnap und anderen Vertretern des Lo-
gischen Positivismus. ( Morscher 2009 , 239 )63
60 Bertrand Russell bereiteten die Konsequenzen des Tractatus in dieser Hinsicht Unbehagen , wie er
selbst in seinem Vorwort zum Tractatus schreibt : „Die ganze Ethik wird z. B. von Wittgenstein in die
mystische , unausdrückbare Region abgeschoben. Trotzdem hat er seine ethischen Ansichten mittei-
len können. Seine Verteidigung würde darin liegen , daß was er das Mystische nennt zwar nicht ge-
sagt , wohl aber gezeigt werden kann. Das ist möglicherweise richtig ; ich muß bekennen , daß mir ei-
nige intellektuelle Unbehaglichkeit bleibt.“ ( Russell 1922 [ 2001 , 285 )
61 „Neurath hatte eine vermeintlich felsenfeste Letzterkenntnis stets bestritten. Seiner Ansicht nach war
die Gesamtheit des Wissens von der Welt immer ungewiß und bedurfte ständiger Verbesserung und
Umwandlung , wie bei einem Schiff , für das es kein Trockendock gibt , und das deshalb auf offener See
repariert und umgebaut werden muß.“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 89 ]) Reichenbach hatte das Verifikations-
prinzip schon immer abgelehnt. Er schlug stattdessen eine Wahrscheinlichkeitstheorie der Bedeutung
vor. ( Carnap 1963a [ 1993 , 90 ])
62 Zum Verifikationsprinzip siehe auch das Nachwort von Patzig 1966.
63 Weil Wert- und Normsätze nicht sinnfähig waren , galten sie manchen auch nicht als logikfähig : „Ein
Sollsatz hat überhaupt keinen Sinn und kann daher auch nicht Träger logischer Eigenschaften ( wie
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441