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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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While I grew up , my mother often explained to me that the essential point in religion was not
to believe certain things , but to live the right life. And for the decision in all moral questions
regarding right and wrong , she referred not to any authority , either the parents or the word of
God , but rather to one’s own moral insight , the “voice of conscience”. This was one of the cor-
nerstones of her brand of Lutheran Protestantism. ( Carnap 1957 , A8 ; zit. n. Carus 2007a , 47 )
Moral wurde Carnap als etwas vermittelt , dessen letzte Rechtfertigungsinstanz das indi-
viduelle Gewissen war. Im Zentrum einer solchen Konzeption zählt die persönliche In-
tegrität als Richtschnur. Moral wurde Carnap somit als ein je individuelles Unternehmen
vermittelt , das zwar in seinen Inhalten , jedoch nicht in seiner Konstitution und Rechtfer-
tigung einen sozialen Bezug aufweist. Diese Ansicht stellte nicht nur Carnaps erste Kon-
zeption von Moral dar , sondern wird sich als Grundannahme auch später in Carnaps the-
oretischem Werk finden.
Zwar wandte sich Carnap als Student entschieden und endgültig von Glaubensfragen
ab ,116 da ihm durch Bücher und Gespräche klar wurde , dass „diese Lehren , wörtlich ge-
nommen , mit den Forschungsergebnissen der modernen Wissenschaft
– [ … ]
– unverträg-
lich waren“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 11 ]). Zunächst verschwanden die übernatürlichen Züge
der religiösen Lehren , sodass Jesus nur mehr ein Mensch unter Menschen war , wenngleich
er durch seine humane Moralität eine Führungsfigur blieb. Später gab Carnap auch seinen
zwischenzeitlichen Pantheismus und den Glauben an die Unsterblichkeit auf. ( Carnap
1963a [ 1993 , 11 f. ]) Für jemanden , der seine Werte als Gläubiger nur zwischen sich und
Gott auszumachen hat , verbleiben Werte nach dem Verlust des Glaubens als rein indivi-
duell zu Klärendes. Carnaps moralische Haltung wurde ungeachtet dieser Änderung auf
religiösem Gebiet inhaltlich nicht infrage gestellt :
Die Wandlung und schließliche Preisgabe meiner religiösen Überzeugungen führten aber
niemals zu einer nihilistischen Haltung gegenüber Fragen der Moral. Meine moralischen
Wertvorstellungen blieben im wesentlichen dieselben wie zuvor. ( Carnap 1963a [ 1993 , 14 ])
Carnap war also nach eigener Aussage nie Amoralist. Welche moralischen Wertvorstel-
lungen waren dies , die sich laut Carnaps eigenem Bekunden schon damals gebildet hat-
ten ? Darüber gibt Carnap gleich zu Beginn seiner Autobiographie Auskunft :
Die wichtigste Aufgabe für den Einzelnen scheint mir die Entfaltung seiner Persönlichkeit
und die Schaffung fruchtbarer und gesunder Beziehungen zu den Menschen zu sein. Dieses
116 Carnap trat 1920 aus der Kirche aus. ( Carus 2007a , 46 , Fn. 7 ) A. Carnap zeigte sich dennoch zeitle-
bens zuversichtlich , ihr Sohn werde eines Tages zum christlichen Glauben zurückfinden. Mehr noch
komme es ohnehin auf die Güte des Herzens und auf Arbeitstreue an. Beides sah sie bei Carnap ge-
geben. ( Flitner 1986 , 310 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441