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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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it. What remained was more than a mere reminiscence of an enjoyable time ; it was rather an
indestructible living strength which forever would influence one’s reactions to all practical
problems of life. ( Carnap 1957 , B35 ; zit. n. Carus 2007b , 21 )
Diese Lebenseinstellung aus dem Serakreis sei auch nach dem Krieg in seiner neu ge-
gründeten Familie und im Freundeskreis sehr lebendig gewesen. Dies änderte sich , als
Carnap nach Wien zog :
When I went to Vienna , however , the situation was different. I still preserved the same spi-
rit in my personal attitude , but I missed it painfully in the social life with others. None of
the members of the Vienna Circle had taken part in the Youth Movement , and I did not feel
myself strong and productive enough to transform single-handedly the group of friends into
a living community , sharing the style of life which I wanted. Although I was able to play a
leading role in the philosophical work of the group , I was unable to fulfil the task of a mis-
sionary or prophet. Thus I often felt as perhaps a man might feel who has lived in a strongly
religious [ and ] inspired community and then suddenly finds himself isolated in the Dias-
pora and feels himself not strong enough to convert the heathen. ( Carnap 1957 , B35 ; zit. n.
Carus 2007a , 56 )
Inwiefern Carnap die Ethische Gemeinde , deren Mitglied er wurde , hier als Ersatz erhoff-
te , muss offen bleiben.
Carus betont als bleibende Einstellung die Ansicht , grundlegende Lebenseinstellun-
gen müssten nicht einfach von der Tradition oder gegebenen Konventionen übernommen
werden. ( Carus 2007b , 21 ) Dieser „Voluntarismus“ hätte im Toleranzprinzip seinen ad-
äquaten philosophischen Ausdruck gefunden. ( Carus 2007b , 35 )139 Noch viel unmittelbarer
wird er sich jedoch in seinen ethischen Bemerkungen der Wiener-Kreis-Periode finden.
5.2.2.2 Monistische Bewegung
Neben Diederichs und Abbe wurde das intellektuelle Milieu Jenas zu Carnaps Studien-
zeit stark von Ernst Haeckel ( 1834–1919 ) und dem Monistenbund bestimmt , den Haeckel
zusammen mit dem international bekannten Leipziger Chemiker Wilhelm Ostwald am
11. Jänner 1906 im Zoologischen Institut Jena gegründet hatte. Er war , wie bereits erwähnt ,
auch das Vorbild für den österreichischen Monistenbund. Haeckel war mit seiner Natür-
lichen Schöpfungsgeschichte ( 1868 ) zum prominenten Interpreten von Darwins Evolutions-
theorie in Deutschland geworden. Er wandte sich gegen kirchliche Dogmen , philosophi-
sche Metaphysik und staatliche Bevormundung. ( Werner 2003 , 48 f. )140
139 Siehe auch Yap 2010 „Feminism and Carnap’s Principle of Tolerance“.
140 Das Weimarer Kultusministerium ließ Haeckel gewähren. An den preußischen Schulen hingegen
wurden seine und Darwins Schriften 1882 verboten. ( Werner 2003 , 49 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441