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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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die diesem Ausdruck dienen , aus der Philosophie ausschließen , in letzter Konsequenz
auch jede normative Ethik.146
5.2.3.2 Neukantianismus
Davon , dass die Metaphysik bestimmte Bedürfnisse des Gemüts erfülle , hatte schon vor
Dilthey Friedrich Albert Lange , einer der Gründer des Neukantianismus , gesprochen. Der
Neukantianismus war Ende des 19. und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahr-
hunderts in Deutschland die bestimmende philosophische Richtung. Es war auch Lange ,
der die Form einer beweisenden Wissenschaft , in der metaphysische Systeme vorgetra-
gen wurden , als trügerisch empfand und die Dichtung als adäquatere Ausdrucksform von
Idealen , die über die Wirklichkeit hinausgehen , vorschlug ( Lange 1875 [ 1974 , 987 f. ]) ( aus-
führlicher hierzu Gabriel 2004 , 10 f. ).147 Wobei der Ausdruck „Bedürfnisse des Gemüts“
wie die moderne Wertphilosophie insgesamt auf Lotze zurückgeht ( v. a. Lotze 1876 ) und
im späten neunzehnten Jahrhundert gewöhnlich zur Verteidigung der Metaphysik heran-
gezogen wurde. ( Gabriel 2004 , 11 ) Carnap wird , wie wir sehen werden , im Einverständ-
nis mit Lange , damit nicht mehr die Metaphysik verteidigen , wenngleich er dahinter ste-
hende Bedürfnisse des Gemüts anerkennt.
Der neukantianische Einfluss auf Carnap bleibt jedoch nicht hierauf beschränkt und
ist aus einer biografischen Perspektive heraus nicht so abwegig , wie es zunächst schei-
nen mag , denn Carnap stand mit einflussreichen Neukantianern in direktem Kontakt.
Im Studienjahr 1911/12 studierte Carnap in Freiburg nicht nur bei Jonas Cohn und Georg
Mehlis , sondern auch bei Rickert. Mit deren damaliger Philosophie war Carnap durchaus
vertraut.148 1921 promovierte er schließlich mit der philosophisch-physikalischen Arbeit
146 Der Einfluss der Lebensphilosophie wurde kaum erkannt und noch weniger genau untersucht :
“Presumably the exaggerated opposition between analytic and continental philosophy left no room
for the thought that a classic author of the analytic tradition like Carnap could have anything to do
with a classic of the continental tradition like Dilthey. Against this rooted prejudice , I want to claim
that certain pecularities of Carnap’s critique of metaphysics make sense only in the context of Le-
bensphilosophie – [ … ]”. ( Gabriel 2004 , 5 f. ) Die Lebensphilosophie nimmt wie die deutsch-österrei-
chische Wertphilosophie und -theorie , Ogden / Richards sowie Stevenson übrigens die konativ-af-
fektive Seite des menschlichen Lebens und ihren sprachlichen Ausdruck sehr ernst.
147 Verzichten könne der Mensch auf den Ausdruck von Idealwelten nämlich nicht : „Eins ist sicher : daß
der Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt be-
darf , und daß die höchsten und edelsten Funktionen seines Geistes in solchen Schöpfungen zusam-
menwirken. Soll aber diese freie Tat des Geistes immer und immer wieder die Truggestalt einer be-
weisenden Wissenschaft annehmen ?“ ( Lange 1875 [ 1974 , 987 ]) Langes Geschichte des Materialismus
war in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein berühmtes Buch. Vom Er-
scheinen des ersten Bandes im Jahre 1866 erlebte es bis 1921 elf Auflagen.
148 In seiner Autobiographie erwähnt Carnap Rickert kein einziges Mal , was Mormann dahingehend
versteht , Carnap habe seine neukantianische Vergangenheit nach seiner Konversion zum Logischen
Empirismus verleugnet. ( Mormann 2010c , 7 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441