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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
114 existenz nicht die Rede sein kann , am wenigsten zwischen Lebensphilosophie und neu-
kantianischer Schulphilosophie. ( Mormann 2006 , 171 )
Mormann sieht eine neukantianische wertphilosophische Position Carnaps schon da-
durch nachgewiesen , dass Werte im Aufbau âzur Klasse der im Rahmen der Konstitutions-
theorie zu konstituierenden GegenstĂ€nde gehörtenâ. ( Mormann 2010b , 89 ) Welche Auf-
fassung von moralischen Werten wird nun im Aufbau vertreten ?
Was meint der Aufbau zunĂ€chst mit âKonstitutionssystemâ ? In einem Konstitutions-
system werden Begriffe höherer Ordnung wie in einem Stammbaum durch Begriffe nie-
derer Ordnung definiert. âBeschleunigungâ wird mithilfe der Begriffe âGeschwindig-
keitszunahmeâ und âZeitâ konstituiert. âGeschwindigkeitâ wiederum mit âWegâ und âZeitâ.
( Beispiele aus Kraft 1950b [ 1968 , 79 ]) Es geht also um den gestuften Aufbau von Begriffen
durch Definitionsketten. Wobei es nicht nur um explizite Definitionen geht. ( Carnap 1928a
[ 1998 , XX ]) AuĂerdem geht es nicht um den tatsĂ€chlichen Aufbau , wie er z. B. in einer Ein-
zelwissenschaft vor sich geht , sondern um die rationale Rekonstruktion eines Begriffsbil-
dungsvorganges. Carnap legt im Aufbau die Skizze eines solchen Systems vor.
Die Rangfolge des Begriffsaufbaus bemisst sich in Carnaps Beispielkonsti tution nach
erkenntnismĂ€Ăigem VerhĂ€ltnis , d. h. dass , was uns erkenntnismĂ€Ăig nĂ€her ist , zuunterst
zu liegen kommt. FĂŒr Carnap sind dies eigenpsychische Elementarerlebnisse. Er wĂ€hlt ein
System mit Elementarerlebnissen und Ăhnlichkeitsbeziehungen zwischen ihnen als Ba-
sis , die Teil des Eigenpsychischen sind. Das ist die erste Stufe , die konstituiert wird. Sei-
ne Skizze fĂŒr diese und die weiteren Stufen in der Architektonik seines Konstitutionssys-
tems sieht folgendermaĂen aus :
( 1 ) eigenpsychische GegenstÀnde
( 2 ) physische GegenstÀnde
( 3 ) fremdpsychische GegenstÀnde
( 4 ) geistige GegenstÀnde
( Carnap 1928a , § 58 )
FĂŒr die Konstitution der geistigen Ge gen stĂ€nde bzw. entsprechenden Begriffe wird dabei
vorausgesetzt , dass die eigenpsychischen , die physischen und die fremd psychischen Ge-
genstÀnde bereits konstituiert sind. Die spezielle Konstitutionsmethode sind bei den geis-
tigen GegenstÀnden Manifestation und Dokumentation ( §§ 54 ff. ). Geistige GegenstÀnde
manifestieren sich in den psychischen und dokumentieren sich in den physischen. So ma-
nifestiere sich eine soziale Gruppe durch die Individuen , die ihr angehören , doch könne
sie nicht einfach als Menge dieser Individuen aufgefasst werden. Eine Nation etwa blei-
be dieselbe , auch wenn ihre âTrĂ€gerâ wechseln. Eine Sitte oder ein Brauch manifestieren
sich durch gewisse Handlungen , kulturelle GegenstÀnde wie Theorien werden durch dau-
erhafte physische GegenstĂ€nde wie BĂŒcher dokumentiert. ( Carnap 1928a , § 24 ) Carnap
bringt als weiteres Beispiel die Art der Religion eines Volkes :
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische KlÀrungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 âWissenschaft und Lebenâ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 âĂberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Spracheâ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 âTheoretische Fragen und praktische Entscheidungenâ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 SpÀtphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle fĂŒr ein vertrĂ€gliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers EthikverstÀndnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer LebensgrundsÀtze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : EudÀmonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂŒndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage natĂŒrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂŒndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 MoralbegrĂŒndung auf der Grundlage primĂ€rer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂŒndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂŒrgerinnen oder BĂŒrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂŒnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂŒrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441