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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Philosophie führt zu einer Verbesserung wissenschaftlichen Denkens und damit zu einem
besseren Verständnis all dessen , was in der Welt , in Natur und Gesellschaft , vorging ; dieses
Verständnis wiederum könnte das menschliche Leben verbessern. ( Carnap 1963a [ 1993 , 38 ])
Carnaps moralische Haltung umfasst Carnap selbst möglichst wortgetreu folgend vier
Prinzipien :
1. Oberstes Ziel ist das Wohlbefinden und die individuelle Entfaltung aller Men-
schen.
2. Alles , was zur Verbesserung des Lebens auf dieses Ziel hin getan werden kann ,
ist nur Aufgabe der Menschen. ( Es gibt weder übernatürliche Beschützerinnen
oder Beschützer noch übernatürliche Feinde oder Feindinnen ).
3. Die Menschheit ist fähig , ihre Lebensbedingungen so umzugestalten , dass viele
der gegenwärtigen Leiden vermieden und die äußere und innere Lebenssituati-
on für den Einzelnen , die Gemeinschaft und schließlich für die ganze Mensch-
heit wesentlich verbessert werden können.
4. Jede überlegte Handlung setzt Welterkenntnis voraus. Die Wissenschaft ist die
beste Methode zur Erkenntnisgewinnung und die Wissenschaft deshalb eines
der wertvollsten Instrumente zur Verbesserung des Lebens.
Diese Prinzipien 1 bis 4 nennt Carnap in seiner Autobiographie von 1963 , wo er sie formu-
liert , „wissen schaftlichen Humanismus“. ( Carnap 1963a [ 1993 , 130 f. ]) In der Namensge-
bung hält er sich vermutlich an Feigl , der diese Terminologie schon vorher ab Feigl 1949
verwendet hatte. Im vierten Prinzip wird ein direkter Zusammenhang von moralischer
Haltung und wissenschaftlicher Tätigkeit hergestellt.
Carnap war der Überzeugung , die großen Probleme der Wirtschafts- und Weltorga-
nisation bedürften im Sinne eines wissenschaftlichen Humanismus einer rationalen Pla-
nung. Für die Wirtschaftsorganisation bedeute dies eine bestimmte Form von Sozialis-
mus , für die Weltorganisation eine allmähliche Entwicklung auf eine Weltregierung hin.
Diese seien jedoch nur organisatorische Mittel für ein [ moralisches ; A. S. ] Ziel. ( Carnap
1963a [ 1993 , 130 f. ]) Die Autobiographie schließt mit folgenden Sätzen :
Dieses Ziel ist eine Lebensform , in der Wohlbefinden und Entfaltung des Individuums am
höchsten rangieren , nicht etwa die Staatsmacht. Hindernisse zu beseitigen , die Hauptgründe
der Leiden wie Krieg , Armut und Krankheit , ist eher die negative Seite der Aufgabe. Die po-
sitive ist , das Leben der Individuen und ihre Beziehungen zu Familie , Freunden , im Berufs-
lisch-politisch humanistisch denkt , mit der Sorgfalt von Logik und Naturwissenschaft vertraut sein
müsste. Hochkeppel setzt in seinem Nachwort die wissenschaftliche Weltauffassung mit dem wis-
senschaftlichen Humanismus gleich. ( Hochkeppel 1993 , 150 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441