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6.3 Mengers Moralauffassung
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Freiheit in der Wahl der logischen Regeln für ihre Transformation. Diese Toleranz nahm
Menger nicht nur für Mathematik , Sprache und Logik239 in Anspruch , sondern auch für
Ethik und Moral.
In Moral , Wille und Weltgestaltung widerlegt er den Intuitionismus in Ethik und Moral
zwar nicht , sondern enthält sich eines Urteils über seine Richtigkeit , doch hält er nicht viel
von intuitionistischen Auffassungen. Auf fast satirische Weise , wie er selbst später einge-
stehen wird ( Menger 1994 , 184 ), distanziert er sich beispielsweise von Brentanos ethischem
Intuitionismus ( Brentano 1889 ), ohne Brentano namentlich zu nennen :
Der logischen Rolle der Ideale analog ist die des Wortes „Wert“, wenn man auf die Fra-
ge „Was ist gut ?“ antwortet „Gut ist das Liebenswerte ( d. h. dasjenige , das zu lieben richtig
ist ).“ Um Konkretes zu erfahren , muß man nämlich offenbar weiterfragen „Was ist liebens-
wert ? Was zu lieben ist richtig ?“ Erhält man hierauf die Antwort „Das wird durch Intuiti-
on erkannt“ oder „Das ist evident“, so ist der Sachverhalt rein logisch betrachtet folgender :
Auf die Frage „Was ist gut ?“ wird mit Zwischenschaltung der Worte „Wert“ und „richtig“ in
letzter Linie geantwortet „Dies ist evident“.
Völlig analog in seiner logischen Struktur wäre folgender Sachverhalt : Einer fragt „Welche
Arzneien sind heilsam ?“ Ein zweiter antwortet : „Heilsam sind diejenigen Arzneien , die es-
senswert sind [ … ]“. Der erste fragt weiter „Welche Arzneien sind essenswert ?“ Der zwei-
te antwortet „Das wird durch die Erfahrung festgestellt“. Was bei diesem Gespräch auf die
Frage „Welche Arzneien sind heilsam ?“ geantwortet wird , ist also ( mit Zwischenschaltung
der Worte „essenswert“ oder „zweckmäßig“ ) der Satz „Dies wird durch die Erfahrung fest-
gestellt“. ( Menger 1934a [ 1997 , 83 f. ])
Wenn jemand in Bezug auf sich selbst von Wesensschau und Intuition spreche , sei dies
dennoch unwiderlegbar. Wenn jemand zu Menger sagt , „Diese Tat ist gut“ bedeute etwas
Gegenständliches wie der Satz „Diese Wiese ist grün“ und was dieser Satz bedeute , er-
kennen wir durch einen eigenen Sinn , so will Menger diese Aussage nicht bestreiten und
ihre Wahrheit leugnen. Er nimmt jedoch für sich in Anspruch , für die Beschreibung sei-
nes eigenen Innenlebens die letzte Instanz zu sein , über derartige Fähigkeiten nicht zu
verfügen und mit Menschen , die für sich selbst solche Fähigkeiten behaupten , nicht über
Ergebnisse , die darauf beruhen , zu diskutieren. ( Menger 1934a [ 1997 , 92 ]) Ebenso unklar
wie die Ausführungen Brentanos zur Intuition seien ihm jene Schelers oder Hartmanns
erschienen. Die Fragen nach einer wahren bzw. richtigen Moral und wie diese erkannt
239 In „Logical Tolerance in the Vienna Circle“ ( 1979b ) erzählt Menger , sein Gedanke logischer To-
leranz sei im Zirkel auf wenig Widerhall gestoßen : “Schlick and Waismann at that time refused to
take my skepticism seriously ; Hahn was not favorably disposed ; Carnap , too , at first shook his head ;
Neurath was not very interested in the question , while Kraft remained silent ; [ … ] F. Kaufmann [ … ]
was dead set against the idea.” ( Menger 1979b , 12 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441