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7. Otto Neurath : Moral
198 aus und nicht zuletzt forschte er auf den Gebieten der Wirtschaftswissenschaften , Sozio-
logie , Alten Geschichte sowie der politischen Theorie , deutschen Literaturgeschichte , der
Architektur258 und angewandten Grafik. William M. Johnston nennt ihn in Österreichi-
sche Kultur- und Geistesgeschichte sogar „eines der am meisten vernachlässigten Genies des
20. Jahrhunderts“ ( Johnston 1974 , 201 ) Die immense Breite der Forschungsgebiete wirkte
auf Neuraths wissenschaftstheoretische Arbeit ein. Neurath folgte Carnap in vielem nicht
und passt beispielsweise durch seinen wissenschaftlichen Holismus nicht zu Quines an-
geblichen Dogmen des Logischen Empirismus. Neurath nahm in der Wissenschaftsthe-
orie sogar viele Kritikpunkte vorweg , die später gegen die Wissenschaftstheorie des Wie-
ner Kreises vorgebracht wurden. ( Uebel 1991b , 4 u. 6 )
Neurath begann in Wien zunächst Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren ,
weil dies seinem früh verstorbenen Vater , Wilhelm Neurath , ein Anliegen gewesen war.
( Neurath P. 1994 , 23 )259 Die Interessen des Sohnes verlagerten sich jedoch alsbald in Rich-
tung Sozialwissenschaften , sodass Otto Neurath schließlich in Wien und Berlin vor allem
Nationalökonomie , Geschichte und Philosophie studierte. Seine nationalökonomische Dis-
sertation über antikes Wirtschaftsdenken legte er 1906 in Berlin vor.260 Er war auf Anra-
ten Ferdinand Tönnies’ , den er 1903 bei einer Tagung in Salzburg getroffen hatte , nach Ber-
lin gegangen , um dort die Geschichte der Antike mit Wirtschaft zu verbinden. ( Neurath P.
1994 , 23 )261 Zurück in Wien lehrte er von 1907 bis 1914 politische Ökonomie an der Neuen
Wiener Handelsakademie , bevor er zunächst an die Ostfront zum Kriegsdienst einberufen
und im Anschluss daran an eine auf sein Betreiben hin eingerichtete Abteilung für Kriegs-
wirtschaft im Kriegsministerium in Wien versetzt wurde. Ebenfalls noch während des Krie-
258 Siehe hierzu Vossoughian 2008.
259 Wilhelm Neurath , jüdisch-liberaler Nationalökonom und Sozialphilosoph , war als Professor für Na-
tionalökonomie an der Hochschule für Bodenkultur tätig. Er starb bereits 1901 , als Otto Neurath das
Gymnasium noch nicht abgeschlossen hatte. Da Otto Neuraths Mutter nur eine geringe Pension er-
hielt , musste dieser von da an weitgehend selbst für seinen Unterhalt sorgen. Besonders die Studi-
enzeit in Berlin war schwierig , und Neurath wurde hungerkrank , wovon er sich mit finanzieller Un-
terstützung eines Freundes in der Schweiz erholen musste. ( Neurath P. 1994 , 22 ff. )
260 Der Titel lautete Zur Anschauung der Antike über Handel , Gewerbe und Landwirtschaft. Sie erschien in
zwei Teilen in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik , in den Jahrgängen 1906 und 1907.
Auf dem gleichen Gebiet erschien 1909 seine Antike Wirtschaftsgeschichte. Neurath war eine histori-
sche Sichtweise und Anknüpfung wichtig. In seinen wirtschaftswissenschaftlichen Studien wollte er
historischen und theoretischen Gesichtspunkten gleichermaßen gerecht werden. Auch für den Wie-
ner Kreis führte er eine Reihe geistiger Väter an , und sein Enzyklopädie-Projekt stellte er als Fort-
führung der französischen Enzyklopädie dar. Zeitgleich mit der Dissertation bereitete Neurath seine
literarisch-kritische Neuherausgabe des 1838 unter dem Pseudonym „Marlow“ erschienenen , tatsäch-
lich von Ludwig Hermann Wolfram verfassten , Faust vor. Neurath schrieb eine 500 Seiten umfas-
sende Einführung über das Leben des Autors. Die Veröffentlichung erfolgte 1906. ( Neurath P. 1994 ,
15 ; siehe auch Meissl 1982 )
261 Neurath blieb viele Jahre lang mit Tönnies und seiner Familie befreundet. ( Neurath P. 1994 , 24 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441