Seite - 224 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 224 -
Text der Seite - 224 -
7. Otto Neurath : Moral
224 Diese Varianten können selbstverständlich verfeinert werden , doch wichtig ist , dass hier
auch bei jenen , die eine politische Positionierung mit der wissen schaftlichen Weltauffas-
sung verbanden , keine Einigkeit herrschte : Die Positio
nierung hinsichtlich der Moral und
das Streben mancher Mitglieder des Wiener Kreises nach Um gestaltung der Gesellschaft
im Sinne des wissenschaftlichen Humanismus sind nicht nur mit einem politischen Pro-
gramm vereinbar. Möglich sind Positionen zwischen Liberalismus und Sozialismus. Trotz
gemeinsamer moralischer Haltung waren nicht alle Sozia listinnen oder Sozialisten , wenn
auch die Autoren der Programmschrift sehr wohl , am allermeisten Neurath.
In Wissenschaftliche Weltauffassung wird neben dem sozialistischen Kontext durchaus
auch der liberale Hintergrund gewürdigt : Das gesellschaftliche und kulturelle Klima im
Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts , das durch den Liberalismus geprägt war ,
wird „als besonders geeigneter Boden“ für die Entwicklung der wissenschaftlichen Welt-
auffassung präsentiert. ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 6 ]) Vor allem im abschließen-
den Ausblick wird die wissenschaftliche Weltauffassung jedoch mit einer sozialistischen
Einstellung und sozialistischem Engagement verbunden :
So kommt es , daß in vielen Ländern die Massen jetzt weit bewusster als je zuvor diese Leh-
ren [ metaphysische und theologische ; A. S. ] ablehnen und im Zusammenhang mit ihrer so-
zialistischen Einstellung einer erdnahen , empiristischen Auffassung zunei gen.
( Neurath / Hahn / Carnap 1929 , 27 )
Dies drückt sicherlich die Ansicht Neuraths aus , nicht jedoch aller Mitglieder des Krei-
ses , auch nicht der führenden. Für Schlick umfasste die wissenschaftliche Weltauffassung
eine moralische , aber keine politische Ausrichtung , obwohl er ein Liberaler war. Er ver-
stand „wissenschaftliche Weltauffassung“ in Bedeutung 2 und lehnte die Programmschrift ,
die ihm gewidmet war , in jenen Teilen ab , in denen die theoretischen Positionen in einem
Zusammenhang mit ( bestimmten ? ) politischen Bestrebungen gebracht wurden. ( Neider
1973 , 49 ) Zudem lehnte Schlick den Stil der Programmschrift ab. Im Unterschied zu Neu-
rath , der sehr impulsiv war , bestimmte Schlicks „behutsames und zurückhaltendes Auftre-
ten durchaus auch die Behandlung philosophischer Fragen“ ( Nemeth 1994 , 116 ). Wäre es
Schlick nur um Wissenschaft und Philosophie gegangen , hätte er wohl nie den Vereins-
vorsitz übernommen und die Widmung trotz aller Bedenken akzeptiert.298
Im moralischen Aspekt der wissenschaftlichen Weltauffassung , wenn im weiteren Sin-
ne ( Bedeutung 2 ) gemeint , waren sich Neurath und Schlick jedoch einig. Wobei die Gren-
ze zwischen der weiteren ( Bedeutung 2 ) und der umfassenden Bedeutung ( Bedeutung 3 )
von „wissenschaftliche Weltauffassung“ davon abhängt , was unter „politisch“ verstanden
298 Der „Werbeprofi“ Neurath war sich wohl auch darüber im Klaren , was es bedeuten würde , auf eine
so wichtige Verbindung zum universitären Establishment , wie Schlick sie bieten konnte , zu verzich-
ten , war sein Verhältnis zu Schlick doch alles andere als einfach.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441