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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
268 Schlick wurde früh durch die deutsche Philosophie jener Zeit geprägt und ersparte sich
keineswegs einen Umweg über Kant. Er studierte als 16-Jähriger die Kritik der praktischen
Vernunft , die ihm zugleich Ehrfurcht einflößte und Enttäuschung brachte. Kant schien
ihm die Moral nicht zu begründen , sondern bloß zu formulieren. Jedenfalls war für Schlick
nach der Lektüre Kants die Metaphysik abgetan , wie er schon in einem zehn Seiten um-
fassenden Lebenslauf , den er mit einem Gesuch um die Zulassung für die Reifeprüfung
vorlegte , bemerkte :
Als ich so das Todesurteil der theoretischen Philosophie ausgesprochen , drängte mich das
Leben , mich in die wichtigste aller praktischen Weisheiten zu vertiefen : in die Betrachtung
des Menschen und des Menschlichen , [ … ]. ( Schlick [ Curriculum Vitae ], Nachlass Schlick ,
Inv.-Nr. 82 , C. 1b , 6 )
Schlick begann nun , 1898 , mit Notizen über das Glück , die ihm später als Grundlage für
die Lebensweisheit dienen sollten , welche er zehn Jahre später publizierte. Bevor ich auf die-
ses Werk und die Studienzeit näher eingehe , sei hier kurz erwähnt , weshalb Schlick nach
eigenem Bekunden trotz dieser Interessen nicht Philosophie , sondern Physik studierte :
So gross meine Liebe zur Philosophie beim Verlassen der Schule auch war , so dachte ich
doch keinen Augenblick daran , sie zum Hauptgegenstand des Universitätsstudiums zu ma-
chen. Das Ergebnis der bisherigen Beschäftigung mit ihr war die Überzeugung von der Nich-
tigkeit der Metaphysik und ein tiefes Misstrauen gegen jede reine Spekulation ; als eigentli-
cher Gegenstand der Philosophie erschien mir der Mensch und das Menschliche , zugleich
als höchster Gegenstand allen Nachdenkens überhaupt. Auf diesem Gebiet aber schien mir
kein eigentliches Studium , kein Lernen und Aufnehmen endgültiger Ergebnisse möglich zu
sein , hier musste vielmehr alles ganz allein und selbständig erarbeitet werden. Wohl erschien
mir das Philosophieren als die wichtigste Aufgabe meines geistigen Lebens , aber als eine ,
die nur privatissime zu erledigen sei. Der Durst nach reiner theoretischen [ sic ! ] Erkenntnis
aber , nach Einsicht in den Zusammenhang der Welt , nach vollkommen sicheren , dem Streit
der Meinungen entrückten Wahrheiten , war allein zu befriedigen durch Gewinnung exakter
Wirklichkeitserkenntnis , das heisst durch das Studium der mathematischen Naturwissen-
schaft. ( Schlick [ Autobiographie ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 82 , C. 2b , 6 f. )
Schlick entschied sich also nicht für die Philosophie , sondern für die Physik als Stu-
dienfach. 1900 begann er in Berlin mit seinem Studium. Schon im darauf folgenden
Frühjahr schob er ein Semester zum Mathematikstudium in Heidelberg ein. Nach sei-
ner Rückkehr besuchte Schlick zusätzlich philosophische Vorlesungen , die ihn jedoch
großteils nicht überzeugten. Mit „Genuss und Gewinn“ besuchte er lediglich Diltheys
geschichtsphilosophische Vorlesungen. ( Dazu Schlick [ Autobiographie ], Nachlass
Schlick , Inv.-Nr. 82 , C. 2b , 9 ) Bereits 1904 promovierte Schlick mit der Schrift Über
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441