Seite - 295 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 295 -
Text der Seite - 295 -
9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
295
standen kann er sich jedoch mit dem Inhalt erklären. Der Grundtenor seiner Kritik lau-
tet , Schlicks Menschenbild sei einfältig und dadurch gleichfalls seine Moralauffassung.
Auf welcher Grundlage kommt Utitz zu diesem Urteil ? Im Speziellen bringt er vor al-
lem zwei Kritikpunkte vor : Zum einen verkenne Schlick das Wesen des Menschen , des-
sen tragische Elemente er nicht wahrhaben wolle , zum anderen negiere er objektive Wer-
te , ohne die er selbst aber nicht auskomme.
Ich werde den zweiten Punkt zuerst behandeln. Utitz bemängelt also , Schlick komme
nicht ohne objektive Werte und eine Wertehierarchie aus , die er jedoch nicht anerkennen
wolle. Wie sonst komme er zur Unterscheidung von Vergnügen und Freude , einer Bevor-
zugung der Sammlung gegenüber der Zerstreuung ?
Doch wohl nur , weil ihm der höhere Wert des Seelisch-Geistigen vorschwebt , weil hier doch
Wertrangierungen durchbrechen , die aus seinem Prinzip nicht zu gewinnen sind , und die auch
durchaus nicht bezeichnende Merkmale gerade der Spielzustände bedeuten. ( Utitz 1930 , 455 f. )
Schlick hat jedoch schon in der Lebensweisheit darauf hingewiesen , dass zwar die Befrie-
digung eines jeden Triebes Lust bringe , doch die Befriedigung mancher Triebe die Be-
friedigung anderer oder die Befriedigung des Triebes in der Zukunft beeinträchtige. Er
könnte Utitz’ Einwand entgegenhalten , zerstreuende Tätigkeiten beeinträchtigen die Ge-
samtsumme der Lust und seien deshalb „minderwertig“. Auf objektive Werte braucht er
nicht zu rekurrieren. In den Fragen
– die Utitz nicht mehr berücksichtigen konnte , was er
in einer Fußnote bedauert – löst Schlick dieses Problem insofern , als er dort die Glücks-
fähigkeit betont , die es zu erhalten gelte. Vergnügen stumpfe ab , wahre Freude nicht ( sie-
he unten 9. 3. 2 ). Der erste Einwand Utitz’ ist nicht haltbar.
Schwerer wiegt der zweite Kritikpunkt , der die Anthropologie Schlicks betrifft. Be-
züglich Schlicks anthropologischer Sicht betont Utitz , im menschlichen Leben sei nicht
alles harmonisch , würden die Neigungen nicht immer mit den moralischen Forderungen
übereinstimmen. Der Mensch sei eben kein Engel , der keine Konflikte auszustehen habe
und keine Entwicklung kenne. Menschen müssten sich gelegentlich zwischen persönli-
chen Neigungen und moralischen Pflichten entscheiden. Dies auszublenden sei keine Lö-
sung und gebe ein inadäquates Bild des menschlichen Lebens :
[ … ] Scheuklappen sind nur Flucht vor der Verantwortung , nicht freier Entscheid im Ange-
sicht dessen , um was das hohe Spiel geht. ( Utitz 1930 , 463 )
Schlick male ein zartes Aquarell in lichten , hellen Farben , die dunklen Schatten merke
man kaum. ( Utitz 1930 , 461 ) Utitz’ Problem mit Schlicks Menschenbild ist hier ähnlich
dem Einwand Plancks , dass nämlich der Mensch hier aus seinem kindlichen Zustand
nicht herauskomme und nicht zur reifen Persönlichkeit gelangt sei , die mit dem Unbill
des Lebens umzugehen wisse und dazu darüber hinaus bereit sei :
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441