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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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so : Die Klärung der lebenspraktischen Fragen , die neben der Klärung der wissenschafts-
theoretischen für Schlick Aufgabe der Philosophie ist , hält er für die Menschen wichti-
ger , nicht für die Philosophinnen und Philosophen. Für ihn ging der Weg der Philoso-
phie zum „Leben“ nicht über die Wissenschaftstheorie , sondern über die direkte ( Sinn- )
Klärung lebenspraktischer Fragen. Darin stimmte er sicherlich nicht mit Carnap , Neurath
oder Frank überein. Für Letztere war diese nicht direkte Aufgabe der Philosophie. Ob sie
sich sosehr darin unterschieden , die Klärung welcher Fragen für die Menschen wichtiger
seien , bleibt offen. Mormann geht jedoch sogar noch weiter :
Es ist nicht klar , wie viel von dieser gelinde gesagt neuartigen Interpretation des Wiener
Kreises dem Versuch einer Anpassung an den Kontext des damals bereits in Österreich herr-
schenden Austrofaschismus geschuldet war , [ … ]. ( Mormann 2010a , 284 )
Für Schlick war diese Auffassung jedoch nicht neu , er hatte sie lediglich in seiner Wie-
ner-Kreis-Periode nicht aufgegeben.
Wir haben mit den Fragen und bis zu Schlicks Tod weder einen radikalen Neuan-
fang und Bruch mit der moralphilosophischen Tradition noch in Schlicks eigener Ethik.
Zwar werden die Positionen von Kant , Brentano und anderen abgelehnt , doch erfolgt die
Einordnung in eine andere Traditionslinie , für die Namen stehen wie : Sokrates , Epikur ,
Hume , Comte , Mill , Feuerbach , aber auch Schopenhauer , Nietzsche und Guyau.
In den Fragen bricht im achten Kapitel der unterirdische Strom wieder hervor , der im
Untergrund ständig brodelt. War die Lebensweisheit noch ein ungestümer Vulkanausbruch ,
so wollen die Fragen bedächtiger und nüchterner sein , schaffen es letztlich jedoch nicht
und werden sogar normativ. Selbst die „Wende der Philosophie“ und das in diesem Sinne
im Vorwort der Fragen geäußerte Philosophieverständnis hat an Schlicks grundlegendem
Verständnis von Ethik nichts geändert , aller angeblichen Zäsur , die dieser Wende übli-
cherweise zugeschrieben wird , zum Trotz.
Wittgenstein , dem Schlick unverzüglich nach dem Erscheinen der Fragen ein Exem-
plar zugesandt hatte , äußert sich nach einem Überblick zurückhaltend :
Ich glaube , ich werde in vielem nicht mit Ihnen übereinstimmen. Aber vielleicht ließen sich
diese Gegensätze auch leichter lösen , als es mir vorkommt. ( Wittgenstein an Schlick , 27. No-
vember 1930 , zit. n. Iven 2006c , 339 f. )
Wenige Wochen später , am 17. Dezember 1930 , traf sich Wittgenstein mit Waismann ,
bei welcher Gelegenheit nicht zuletzt über die Fragen gesprochen wurde. Der Inhalt die-
ses Gespräches ist in Waismann 1967 veröffentlicht. Wiederum bleibt Wittgenstein kri-
tisch : Das Ethische könne man nicht erklären , das Wertvolle nicht definieren. ( Wais-
mann 1967 , 115 ff. ) Obwohl Wittgenstein im Vortrag über Ethik ( 1929 /30 ) einen sinnvollen
Gebrauch praktischer Ausdrücke in einem relativen Sinne zulässt , hält er wie schon im
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441