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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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[ … ] die Forderung muss von jedem anerkannt werden , sobald er sich als Exemplar einer
Gattung erkennt , weil die Ablehnung dieser Forderung bei Aufrechterhaltung des individu-
ellen Zieles [ … ] eine Ausnahmestellung ergeben würde , die unter dem Gattungsgesichts-
punkt unmöglich ist. ( Kraft 1940 , 222 )
Unmöglich ist sie , weil sie der Forderung nach gleicher Berücksichtigung widerspricht.
( Vgl. auch Strzelewicz 1941 , 261 ) So schreibt Kraft : Mit der Einnahme des Gattungsge-
sichtspunktes stelle man sich selbst den anderen gleich , man gestehe den anderen zu , was
man selber von ihnen verlangt. ( Kraft 1940 , 219 )
Es wurde zu Recht kritisiert , es handle sich hier nicht nur um die Einsicht in ein
gattungsmäßiges Gleichartigsein , sondern um die Anerkennung nach gleicher Berück-
sichtigung , nach Gleichberechtigung , nach Gleichbehandlung , die eine normative For-
derung darstellt : Alle Exemplare einer Gattung sollen gleich behandelt werden. Kraft
begehe hier ein non-sequitur , da aus der Erkenntnis der Artgleichheit nicht die Aner-
kennung des Gleichbehandlungsgrundsatzes folge. Was heißt das für das Argument ?
Wer die Norm „Alle Exemplare einer Gattung sollen gleich behandelt werden“ aner-
kannt hat und wie alle anderen bestimmte Ziele erstrebt , kann anderen das gleiche Stre-
ben nicht verwehren. Die Norm der Gleichbehandlung wird also schon vorausgesetzt.
Und das Problem verschiebt sich darauf , warum diese allgemein anerkannt werden soll.
Es wird davon ausgegangen ,
daß bestimmte Probleme durch Anwendung allgemeiner Regeln gelöst werden sollen. Der
Begründungsversuch für die Notwendigkeit der Anerkennung einer allgemeinen Regel be-
ruht daher auf einer petitio principii. ( Hegselmann 1979 , 99 )
Diesen Einwand brachte bereits Strzelewicz ( 1941 , 261 f. ) vor. Kraft liefert sich dem be-
rechtigten Vorwurf aus , dass diese Ausführungen zur Ethik und Wertproblematik bereits
einen moralischen Standpunkt voraussetzen. ( Radler 2006 , 218 )510
Was hatte Kraft mit seinem Argument beabsichtigt ? Er meinte in der Begründung
der altruistisch-egalitaristischen Norm auf allgemein anzuerkennende moralische Nor-
510 Nach Radler 2010 gehe es bei Kraft gar nicht um ein deduktives Argument , sondern um abduktives ,
praktisches Räsonieren. Das von Charles S. Peirce ( 1839–1914 ) erstmalig entwickelte Konzept der
„Abduktion“ oder des „abduktiven Schließens“ bezeichnet denjenigen Prozess , in dem ein Mensch
angesichts einer als problematisch oder erklärungsbedürftig empfundenen Erfahrung eine erklären-
de Hypothese bildet. Dies wurde von Risto Hilpinen 2007 zu einer praktischen Abduktion umge-
formt. Ein abduktives Argument würde jedoch lediglich Gründe aufzeigen , die die Räsonierenden
zur Handlung gebracht haben. Je nach den Gründen könnte die Handlung als gerechtfertigt gelten
oder nicht. Kraft würde ein abduktives Argument jedoch nicht genügen. Er will nicht nur zeigen ,
dass , wer moralisch handelt , gerechtfertigt ist. Vielmehr geht es ihm darum zu zeigen , dass , wer ra-
tional sein will , moralisch handeln muss.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441