Seite - 405 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen
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soziale Institution. Die Inhalte einer Moral werden nur mit sich selbst abgemacht , nicht
mit anderen. Alles , was es in Carnaps Verständnis zur Bildung einer Moral braucht , sind
Empfängerinnen oder Empfänger der Wohl- oder Übeltaten , keine „mitspielenden“ mo-
ralischen Akteurinnen und Akteure. Im Extremfall spielt Carnap ein solitäres Spiel , in
der inhaltlichen Gestaltung seiner Moral ganz frei bleibend. Was ein religiöser Mensch
noch mit sich und seinem Gott abmachen muss , macht ein sich als moralisch verstehen-
der Mensch bei Carnap nur mehr mit sich selbst ab. Als einzige Rechtfertigungsinstanz
bleibt das eigene Gewissen. Wo ein Zusam menschluss von Individuen zu einer Wertege-
meinschaft stattfindet , ist dieser sekundär und basiert auf vorhergehenden moralischen
Entschlüssen , der höchst persönlichen Wahl von Grundwerten. In Carnaps Moralver-
ständnis gibt es keine vorgegebenen Kriterien , die allgemein zugänglich wären und die
eine solche Wahl als richtig oder falsch erweisen könnten , noch sollten. Bei Carnap selbst
fiel die Wahl auf den wissenschaftlichen Humanismus , doch nichts am Inhalt dieser Hal-
tung weist diese als moralische aus. Allen Menschen übel zu wollen , könnte auch als mo-
ralische Haltung gewählt werden. In diesem Sinne meint Carnap noch 1964 : Was gut oder
böse ist , das sei „eine individuelle Entscheidung jedes Menschen nach seinem Gewissen
oder Wertgefühl oder wie immer man es nennen will“ ( Carnap 1964 [ 1993 , 146 ]).
Auch bei Menger finden sich weder inhaltliche noch formale Vorgaben für ein mora-
lisches Normensystem. Insbesondere weist er die Forderung nach Allgemeingültigkeit ab.
Moralische Forderungen müssten nicht für alle , für immer und überall gelten. Selbst Impe-
rative , die lediglich den Willen eines Individuums ausdrücken , könnten eine Moral bilden.
Für Neurath geht es in seinen Lebensgrundsätzen und vielfältigen Aktivitäten um das
Glück aller Menschen. Dieses System von Lebensgrundsätzen werde jedoch nicht durch
den Gehorsam einem Gott oder dem eigenen Gewissen gegenüber gerechtfertigt , sondern
durch gemeinsamen Entschluss. ( Neurath 1928 [ 1981a , 228 ]) Wir können hierbei durch-
aus von einer Moral sprechen , bei der es sich um ein gemeinsames Unternehmen handelt.
Ziel von Neuraths Moral ist die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen , die
Vermehrung des Glücks der gesamten Menschheit. Neurath selbst will , insofern sich die-
ses System und seine Rechtfertigung zu sehr von traditioneller Moral unterscheiden , zu
jener Zeit hierbei nicht von Moral sprechen. Erst später räumt er diese Möglichkeit ein.
Anders finden wir es bei Frank , der sich jedoch erst 1950 dazu äußert. Er teilt Neu-
raths Auffassung , spricht jedoch von Moral und sieht diese generell als ein gemeinsa-
mes Unternehmen. Es gehe in einer Moral um eine gemeinsame Verständigung über die
Wünschbarkeit bestimmter Lebensweisen , so Frank. Wo bei er mutmaßt , diese Verstän-
digung werde , solle sie die gesamte Menschheit umfassen , inhaltlich sehr wenig enthal-
ten. ( Frank 1950 [ 1952 , 81 ])
Bei Schlick gilt es in dieser Frage insofern zu differenzieren , als bei ihm zwei Moralbe-
griffe anzutreffen sind. Die gesellschaftliche Moral ist bei ihm offen sichtlich ein gemein-
sames Unternehmen , in dem die Gesellschaft das als moralisch gut bezeichnet , von dem
sie glaubt , „daß es ihre eigne Wohlfahrt am meisten fördere“ ( Schlick 1930 , 118 ). Zwar
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441