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12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen
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doch selbst darüber sinnvoll sprechen. Aufgrund seiner Ermordung bot sich Schlick kei-
ne Gelegenheit mehr , seine Position zu präzisieren. Wir wissen zudem nicht , ob Schlick
sein sehr optimistisches Menschenbild durch die sich anbahnende politische Katastrophe
geändert hätte. Er war jedenfalls in seiner Ethik kein Logischer Empirist , „wie er im Bu-
che steht“ ( Mormann 2010a , 263 ), sondern gefiel sich in der Rolle des Weisen , der in sei-
ner Ethik lebenspraktische Orientierung bietet.
In Übereinstimmung mit allen anderen hier behandelten Mitgliedern des Wiener Krei-
ses gehörten für Kraft empirische Untersuchungen ( psychologische , soziologische , histo-
rische ) der Moral zu den legitimen Arbeitsbereichen der Wissen schaft. Kraft wollte diese
Untersuchungen jedoch ausdrücklich nicht gänzlich an andere Disziplinen abgeben , son-
dern innerhalb der Philosophie in der Ethik behandeln. Ebenso hätte sich die Ethik me-
taethischen Fragestellungen zu widmen. Diesen sind von Krafts Arbeiten vor allem seine
Analyse moralischer Wertbegriffe im Rahmen einer allgemeinen Wertlehre von 1937 zuzu-
ordnen. 1937 versucht Kraft jedoch noch keine Moralbegründung. Eine solche wird erst ab
1940 sein zentrales Anliegen in der Ethik , ab da in verschiedenen Versionen indes viel kla-
rer und direkter als bei Schlick. Kraft stützt sich zunehmend auf ein teleologisches Argu-
mentationsschema , dessen eine Prämisse eine objektiv zu beurteilende Zweck-Mittel-Be-
ziehung formuliert. Gleichwohl gelang es ihm niemals , eine überzeugende rein rationale
Begründung der mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftretenden moralischen Normen
zu präsentieren. Er konnte höchstens zeigen , dass bei Akzeptanz bestimmter Grundnor-
men ( z. B. seiner altruistisch-egalitaristischen Norm ), gewisser anthropologischer Gege-
benheiten ( Strebungen ) und ausgewählter Zweck-Mittel-Be ziehungen bestimmte morali-
sche Normen allgemein anerkannt werden müssen. Die Möglichkeit , moralische Ansichten
über das Zusammenleben der Übereinkunft einer Gemeinschaft anzuvertrauen , nützte
Kraft in seinem Verlangen nach einem unverrückbaren Fundament der Moral nicht.
Feigl folgte in weiten Teilen Krafts Ethikauffassung. Auch er versucht in seinen Bei-
trägen , die jedoch erst außerhalb der Wiener-Kreis-Periode liegen , eine Begründung der
Moral. Diese fasste er als ein System mit den Prinzipien der Gerechtigkeit , der Güte , der
Brüderlichkeit , der Freiheit , der Liebe und der Selbstvervollkommnung als Grundnormen
auf. ( U. a. Feigl 1974 [ 1981 , 19 ]) Abgeleitete moralische Normen können durch „validation“
begründet werden , die Grundnormen nur pragmatisch-instrumentell durch „vindication“.
In Feigls Analyse werden die genannten Grundnormen dadurch pragmatisch begründet ,
dass deren Befolgung die Bedürfnisse und Interessen aller Menschen befriedigen würde.
1952 hofft Feigl lediglich , diese Bedürfnisse und Interessen würden sich angleichen , 1965
nimmt er eine gemeinsame menschliche Natur hingegen einfach an.
Ethik ist nicht zufällig jenen Mitgliedern des Wiener Kreises weniger suspekt , die sie
als eine gemeinsame Praxis ansehen , welche wiederum ein Mittel zur Reali sierung außer
ihr liegender Zwecke darstellt. Das Merkmal des Gemeinsamen bietet einen Standpunkt
für systemimmanente und intersubjektive Beurteilung. Das Merkmal des Mittelseins er-
möglicht zudem eine pragmatische Begründung für die Grundnormen des moralischen
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441