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„Falls es zutrifft, dass Kinder anders sind, bedeutet der Umgang mit Kindern Umgang
mit Andersheit. Andersheit kann faszinierend sein und als Bereicherung erlebt werden,
sie kann befremdend wirken und als Bedrohung erfahren werden, sie kann lästig sein
oder entlastend wirken gegenüber der Last des eigenen Daseins.“322
Diese Differenz prägt als Grundannahme die theoretische und methodische Ausgestal-
tung der Kindheitsforschung. Werden Kinder im unterscheidenden Vergleich zu den
Erwachsenen definiert,323 gelten sie als unfertige Erwachsene und nicht als eigenstän-
dige Subjekte in ihrer eigenen Lebensphase. Die Differenz, die zwischen Erwachse-
nen und Kindern besteht, gilt es anzuerkennen, ohne die Kinder auf das Kindsein fest-
zuschreiben, das die Erwachsenen selbst erlebt oder sich in den eigenen Vorstellungen
zurechtgerückt haben. Anerkennung der Differenz, die durch die Generationenver-
hältnisse besteht, beinhaltet Anerkennung des Kindes im jeweiligen Kindsein und
erfordert Offenheit und Unvoreingenommenheit, um die Sichtweise der anderen Per-
son kennenzulernen. Begibt sich die Forschende oder der Forschende mit Vorannah-
men über das Kindsein oder den Ausgang der Forschung in den Forschungsprozess,
kann dies das Antwortverhalten des Kindes in Richtung Gefälligkeit verfälschen. Die
unterschiedlichen Rollen von Kindern und Erwachsenen müssen reflektiert werden.
Erwachsene sind weitaus autonomer und die Kinder abhängiger bei der Gesprächs-
führung. Gegenüber fremden Interviewerinnen und Interviewern kann bei Kindern
Scheu auftreten. Kinder können die besondere Struktur der Interviewsituation nicht
unbedingt einordnen.
Die differenzierende Anerkennung zwischen Erwachsenen und Kindern führt zur
Anerkennung des Abhängigkeits- und Hierarchieverhältnisses, das in Beziehungen
zwischen Kindern und Erwachsenen mitschwingt.
„Wenn die Beziehung möglich werden soll, muss die ältere Generation anerkennen,
dass das Kind weitgehend von ihr abhängig ist, dass sie sehr weitreichende Macht über
das Kind hat und dass sie Verantwortung für weite Teile seines Lebens übernehmen
muss. Das Kind muss Nahrung und alle anderen Versorgungen annehmen, muss auf
irgendeine unbewusste Weise die Erwachsenen als bestimmende Mächtige und als
Gebende anerkennen, um überhaupt weiter existieren und aufwachsen zu können.“324
Ebenso wie im pädagogischen Geschehen Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, sind
auch Beteiligte im Forschungsprozess voneinander abhängig. Besonders im For-
schungsprozess mit Kindern ist das Bewusstsein über die vorhandenen Hierarchien
und Abhängigkeiten von großer Relevanz, da Kinder Erwachsene häufig in einem
322 Liegle, Ludwig (2006): Bildung und Erziehung in früher Kindheit, 11.
323 Vgl. Fuhs, Burkhard (2012): Kinder im qualitativen Interview. In: Heinzel, Friederike
(Hg.): Methoden der Kindheitsforschung, 80–103, 84.
324 Prengel, Annedore (2005): Anerkennung von Anfang an. In: Geiling, Ute/Hinz, Andreas
(Hg.): Integrationspädagogik im Diskurs, 20.
Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten
Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
- Titel
- Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten
- Untertitel
- Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
- Autor
- Helena Stockinger
- Verlag
- Waxmann Verlag GmbH
- Ort
- Münster
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8309-8648-5
- Abmessungen
- 16.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 280
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Teil I: Theoretische Grundlagen und Begriffsklärungen 12
- 1. Praktisch-theologische Herangehensweise 12
- 2. Ausgangslage der Forschung 14
- 3. Das Recht der Kinder auf Differenz 16
- 4. Chancen und Herausforderungen der Religionspädagogik 17
- 5. Religiöse Differenz in elementaren Bildungseinrichtungen 18
- 6. Begriffliche Klärungen 20
- Teil II: Forschungsstand 41
- 1. Forschungsergebnisse zum Umgang mit religiöser Differenz 41
- 1.1 Ausgewählte Studien mit Kindern im Grundschulalter 42
- 1.2 Empirische Studien mit Kindern in der Elementarpädagogik 46
- 1.2.1 Eva Hoffmann: Interreligiöses Lernen im Kindergarten? 46
- 1.2.2 Friedrich Schweitzer, Albert Biesinger, Anke Edelbrock: Tübinger Projekte 48
- 1.2.3 David Elkind: Erforschung der Glaubensentwicklung 52
- 1.2.4 Ina ter Avest: Erfahrungen im Umgang mit dem Anderen 53
- 1.2.5 Daniel Bar-Tal: Konzept eines „Arabers“ in Israel 54
- 1.2.6 Paul Connolly et al.: Einstellung gegenüber Gruppen in Nordirland 55
- 1.3 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse 58
- 2. Forschungsfrage 60
- 3. Anliegen der Studie 60
- 4. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse 62
- 5. Möglichkeiten und Grenzen der Kindheitsforschung 67
- Teil III: Methodologische Zugänge der Studie 81
- 1. Qualitativ-empirische Forschung 81
- 2. Ethnographischer Zugang 89
- 3. Grounded Theory 90
- 4. Thematisches Kodieren nach Uwe Flick 94
- 5. Begründung der Forschungszugänge 96
- 6. Überblick über die angewendeten Methoden 98
- Teil IV: Untersuchungsdesign und durchführung 108
- 1. Angewendete Methoden bei der Untersuchung 108
- 2. Auswahl der Kindergärten 114
- 3. Untersuchungsdurchführung 117
- 4. Reflexion der Untersuchungsdurchführung 121
- Teil V: Auswertung 124
- 1. Hinweise zur Auswertung in der vorliegenden Studie 124
- 2. Darstellung der Kindergärten 125
- 3. Kurze Fallbeschreibungen 133
- 4. Datenauswertung 149
- Teil VI: Diskussion 183
- 1. Der Kindergarten als Organisation 183
- 2. Plädoyer: Entwicklung einer Kultur der Anerkennung religiöser Differenz 194
- 3. Rückblick – Ausblick 244
- Literatur 247
- Tabellen und Abbildungsverzeichnis 276
- Anhang 277
- Abstract 279