Seite - 172 - in Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten - Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
Bild der Seite - 172 -
Text der Seite - 172 -
© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
172
Wissen über religiöse Differenz
Die Kinder im Kindergarten in islamischer Trägerschaft wissen um das Faktum der
religiösen Differenz. Bezugspunkt für die Erklärungen über religiöse Ausdrucksfor-
men ist bei den Kindern der Islam. Sie unterscheiden, ob sie muslimisch sind oder
dies nicht sind, eine andere Religion wird von den Kindern nicht genannt. Die Kinder
geben die Zugehörigkeit zum Islam als Grund an, ob bestimmte Feste gefeiert, ob ein
Kopftuch getragen wird und ob bestimmte Gebote eingehalten werden. Das Kopftuch
ist für viele Kinder ein Unterscheidungskriterium, ob Frauen Muslima sind oder nicht.
Ein Kind erzählt beim Mittagessen, dass seine Mutter nicht schwimmen gehen könne.
484 Ich geh immer mit Papa schwimmen. Weil meine Mama hat ein Kopftuch, sie ist
Muslim. Sie kann nicht.647
Die muslimischen Kinder im Kindergarten in islamischer Trägerschaft kennen christli-
che Feste, die sie nicht feiern. Sie wissen über die Gebetswaschungen und die Moschee
Bescheid und dass manche Gebote von Menschen, die nicht muslimisch sind, nicht
befolgt werden. Sie kennen das Verbot von gewissen Verhaltensweisen im Islam wie
das Tragen von kurzen Röcken oder Nagellack, sich zu schminken oder Alkohol zu
trinken. Die Kinder verbessern sich gegenseitig, wenn ein Teil einer Koransure falsch
rezitiert wird. Vor dem Moscheebesuch fragen sie einander, ob sie die Gebetswaschun-
gen richtig ausgeführt hätten. Einige Mädchen kontrollieren die anderen Kinder bei
den Gebetswaschungen und erklären ihnen im Befehlston, was sie zu tun hätten, wor-
aufhin alle Kinder gehorchen. In einer Situation behauptet ein muslimisches Kind,
dass ein anderes Kind in die Hölle komme, weil es nicht muslimisch sei. Die Kinder
kontrollieren sich bei religiösen Ritualen gegenseitig.
Die Kinder orten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als Grund für
den Besuch oder für das Fernbleiben vom Koranunterricht und sind sich bewusst,
dass nicht alle Menschen in den Koranunterricht gehen.648 Die christlichen Kinder
in der Gruppe wissen, dass sie selbst nicht in den Koranunterricht gehen, weil sie
keine Muslime sind, wobei ein Kind statt des Wortes Muslime das Wort Moschee
verwendet. Die christlichen Kinder sind sich ebenso bewusst, dass alle anderen Kin-
der der Gruppe in den Koranunterricht gehen. Muslimsein bedeutet für die beiden
christlichen Mädchen, in den Koranunterricht zu gehen. Die muslimischen Kinder, die
die Abwesenheit mancher Kinder bemerken, haben im Kindergarten in islamischer
Trägerschaft Erklärungen dafür. Folgende Gründe werden von den muslimischen Kin-
dern im Kindergarten in islamischer Trägerschaft für den Besuch oder das Fernbleiben
vom Koranunterricht genannt, wobei jedes Kind ausschließlich einen Grund angibt:
Muslimsein: Einige muslimische Kinder erwähnen, dass sie in den Koranunter-
richt gehen würden, weil sie Muslime seien, wohingegen manche der Gruppe keine
Muslime seien und deshalb den Koranunterricht nicht besuchen würden. Die Kinder
647 Forschungstagebuch im Kindergarten in islamischer Trägerschaft, 483.
648 Vgl. Abschnitt „Wissen über religiöse Differenz“ (Teil V, 4.2.1).
Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten
Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
- Titel
- Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten
- Untertitel
- Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
- Autor
- Helena Stockinger
- Verlag
- Waxmann Verlag GmbH
- Ort
- Münster
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8309-8648-5
- Abmessungen
- 16.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 280
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Teil I: Theoretische Grundlagen und Begriffsklärungen 12
- 1. Praktisch-theologische Herangehensweise 12
- 2. Ausgangslage der Forschung 14
- 3. Das Recht der Kinder auf Differenz 16
- 4. Chancen und Herausforderungen der Religionspädagogik 17
- 5. Religiöse Differenz in elementaren Bildungseinrichtungen 18
- 6. Begriffliche Klärungen 20
- Teil II: Forschungsstand 41
- 1. Forschungsergebnisse zum Umgang mit religiöser Differenz 41
- 1.1 Ausgewählte Studien mit Kindern im Grundschulalter 42
- 1.2 Empirische Studien mit Kindern in der Elementarpädagogik 46
- 1.2.1 Eva Hoffmann: Interreligiöses Lernen im Kindergarten? 46
- 1.2.2 Friedrich Schweitzer, Albert Biesinger, Anke Edelbrock: Tübinger Projekte 48
- 1.2.3 David Elkind: Erforschung der Glaubensentwicklung 52
- 1.2.4 Ina ter Avest: Erfahrungen im Umgang mit dem Anderen 53
- 1.2.5 Daniel Bar-Tal: Konzept eines „Arabers“ in Israel 54
- 1.2.6 Paul Connolly et al.: Einstellung gegenüber Gruppen in Nordirland 55
- 1.3 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse 58
- 2. Forschungsfrage 60
- 3. Anliegen der Studie 60
- 4. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse 62
- 5. Möglichkeiten und Grenzen der Kindheitsforschung 67
- Teil III: Methodologische Zugänge der Studie 81
- 1. Qualitativ-empirische Forschung 81
- 2. Ethnographischer Zugang 89
- 3. Grounded Theory 90
- 4. Thematisches Kodieren nach Uwe Flick 94
- 5. Begründung der Forschungszugänge 96
- 6. Überblick über die angewendeten Methoden 98
- Teil IV: Untersuchungsdesign und durchführung 108
- 1. Angewendete Methoden bei der Untersuchung 108
- 2. Auswahl der Kindergärten 114
- 3. Untersuchungsdurchführung 117
- 4. Reflexion der Untersuchungsdurchführung 121
- Teil V: Auswertung 124
- 1. Hinweise zur Auswertung in der vorliegenden Studie 124
- 2. Darstellung der Kindergärten 125
- 3. Kurze Fallbeschreibungen 133
- 4. Datenauswertung 149
- Teil VI: Diskussion 183
- 1. Der Kindergarten als Organisation 183
- 2. Plädoyer: Entwicklung einer Kultur der Anerkennung religiöser Differenz 194
- 3. Rückblick – Ausblick 244
- Literatur 247
- Tabellen und Abbildungsverzeichnis 276
- Anhang 277
- Abstract 279