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Einleitung30
Höllingers Analyse dieses Phänomens klingt plausibel : »In Regionen, in denen auf-
grund des hohen Gesindeanteils und rigider Heiratsverbote voreheliche Beziehun-
gen und Konkubinate weitverbreitet waren, wurden die kirchlichen Ehe- und Sexu-
alnormen zwangsläufig als besonders lebensfremd wahrgenommen. Möglicherweise
war in diesen Gegenden auch der Klerus, der ja inmitten der dörflichen Gemein-
schaft lebte, weniger als anderswo von den kirchlichen Sexualgeboten überzeugt und
selbst in verbotene sexuelle Beziehungen verstrickt. Wenn ein solcher Priester den-
noch die amtskirchlichen Normen halbherzig einforderte und im Auftrag der Kirche
einfordern mußte, war seine Glaubwürdigkeit entsprechend gering. Andererseits zog
erst recht ein moralisch ›sauberer‹ Sittenprediger die Ablehnung der Gemeinde auf
sich.«67
Das Fernbleiben vom Gottesdienst ist demnach ein Indikator für die Entfremdung
von Kirche und Bevölkerung in einer Epoche, in der die gesellschaftliche Macht der
Kirche und damit die dörfliche soziale Kontrolle des regelmäßigen Kirchgangs auch
am Land zu schwinden begannen.
Das Beispiel dieses Zusammenhanges zwischen der gesellschaftlichen Machtrate
der Kirche und der Sexualpraxis einer bestimmten Bevölkerungsschicht, hier darge-
stellt anhand des Phänomens einer hohen Zahl an unehelichen Kindern, zeigt un-
ter anderem, wie sehr intimste Privatbereiche des menschlichen Alltagslebens vom
Gang gesamtgesellschaftlicher Entwicklungslinien beeinflusst werden können. Die
Berücksichtigung solcher Verflechtungszusammenhänge zwischen mikro- und ma-
krohistorischen Prozessen soll in der hier vorgenommenen Untersuchung leitend
werden und so einen genaueren Einblick in die bislang nur oberflächlich angedeute-
ten Zusammenhänge bieten. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, be-
darf es zunächst theoretischer Vorüberlegungen und eines entsprechenden Begriffs-
apparates. Dieser Begriffsapparat soll aus einem interdisziplinären Ansatz gewonnen
werden, der über die Grenzen der klassischen kirchlichen Landesgeschichtsschrei-
bung hinaus etablierte Konzepte der Soziologie und Kulturwissenschaft für die be-
handelte Fragestellung fruchtbar zu machen versucht.
3 Theoretische Vorüberlegungen
Die vorliegende Arbeit versteht sich als historisch-soziologische Untersuchung mit
kirchengeschichtlichem Schwerpunkt. Insofern steht die leitende Fragestellung nach
der Beziehung zwischen Kirche und Bevölkerung in Kärnten auch am Schnittpunkt
dreier Disziplinen – Kirchengeschichte, Soziologie und Kulturwissenschaft liefern
die dafür notwendigen Begriffsinstrumentarien. Die Forschungsgeschichte zeigt,
67 Ebd., 174.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353