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39Theoretische
Vorüberlegungen
chung im ersten Hauptteil vorauszuschicken, dass der vorgestellte Ansatz eben ein
prozesssoziologischer ist, dem es nicht mit äußerster Akribie um die historischen
Details und Einzelfälle geht und gehen kann, sondern der Entwicklungslinien und
Zusammenhänge begreifen möchte, in den die Einzelfälle eingebettet sind. Insofern
sind auch gewisse Generalisierungen, so vorsichtig sie auch zu formulieren sind, un-
vermeidbar, wenn langfristige Aussagen über Geschichte und Gesellschaft möglich
sein sollen.105
Methodisch gesehen erfordert ein derartiger Zugang nicht nur die klassische Ar-
chivarbeit, wie sie für den zweiten Hauptteil geleistet wurde, sondern ein Aufspüren
und Auswerten von teilweise langfristigen, dem Prozesscharakter adäquaten Erinne-
rungstraditionen, die ihren Niederschlag in Historiographie, Literatur und bilden-
der Kunst dieses Landes gefunden haben. Sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses
und vermitteln mitunter ein plastisches Bild der habituellen Voraussetzungen für
die Wahrnehmung von Kirche und Gesellschaft. Der Begriff des kulturellen Ge-
dächtnisses als Teil des kollektiven Gedächtnisses verdient daher eine eingehende
theoretische Erörterung.
3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis
Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses wurde vom deutschen Ägyptologen, Reli-
gions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann in Zusammenarbeit mit seiner Frau,
der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, in den 1980er und
1990er Jahren geprägt und hat sich in den Kulturwissenschaften mittlerweile gut
etabliert. Assmann baut seine Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis auf den
Forschungen des Soziologen Maurice Halbwachs und des Kunsttheoretikers Aby
Warburg auf. Beide hatten unabhängig voneinander in den 1920er Jahren versucht,
kollektive Gedächtnisphänomene nicht mit biologistischen Auffassungen zu erklä-
ren, sondern als soziale Prozesse wahrzunehmen. Das kulturelle Gedächtnis versteht
sich so »als Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen
einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation
zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.«106
Zur näheren Erläuterung sollen zunächst wichtige Begriffe unterschieden wer-
den. Den Begriff kollektives Gedächtnis hat Halbwachs geprägt.107 Seine Argumenta-
tion lief darauf hinaus, dass Gedächtnis immer sozial bedingt ist und damit niemals
ausschließlich individuell entstehen kann. Kollektive bestimmen und formen das
Gedächtnis des Einzelnen, selbst intimste Inhalte des Gedächtnisses werden durch
105 Dorner-Hörig, C.: Habitus und Politik (2014), 28.
106 Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis (1988), 9.
107 Halbwachs, M.: Das kollektive Gedächtnis (1967).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353