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Kirche und Habitus im »Christlichen
Ständestaat«138
chern. So einfach funktionieren Ideologien in der Regel nicht.«51 Man war ernsthaft
tief verunsichert vom Verlust einer gewissen natürlichen, gottgegebenen Ordnung
der Dinge. Das Mittelalter mit seinem vermeintlich intaktem »ständischen« Sozial-
system wurde in antiliberaler und antimodernistischer Stoßrichtung idealisiert – ein
Gedanke, den Dollfuß mehrmals aufgriff, nicht zuletzt in seiner Rede am Trabrenn-
platz am 11. September 1933, freilich in verklärter Naivität, wenn er etwa das Bild
vom Bauernhaus bemüht, »wo der Bauer mit seinen Knechten nach gemeinsamer
Arbeit abends am gleichen Tisch, aus der gleichen Schüssel seine Suppe isst«52.
So sollten die wirtschaftlich-ständisch organisierten Gesetzgebungsorgane auf
Grundlage der Soziologie Othmar Spanns und seiner Schüler aus der katholischen
Soziallehre – unter ihnen der Kärntner Geistliche Philipp Bugelnig – sowie auf
Grundlage der Sozialenzyklika Quadragesimo anno, der vierzigjährigen Jubiläumsen-
zyklika zu Leos XIII. Rerum novarum von 1891, verankert werden. Dollfuß verkün-
dete am Katholikentag 1933 die Absicht und »den Ehrgeiz, das erste Land zu sein,
das dem Ruf dieser herrlichen Enzyklika im Staatsleben Folge leistet«53.
Die katholischen Theoretiker, von Othmar Spann bis hin zu Johannes Messner,
forderten also die Zusammenarbeit von Unternehmertum und Arbeiterschaft in den
»Ständen«. Die Realisierungsversuche in den diversen Gesetzeserlassen blieben aber
im Ansatz stecken – zu stark waren die Differenzen und ideologischen Gräben. Erst
nach dem Zweiten Weltkrieg sollten Elemente dieses Modells in die heute noch
wirksame »Sozialpartnerschaft« einfließen.54
Seitens des Vatikans gab es keinen Einspruch gegen dieses System, das Konkordat
1933 sicherte der Kirche politische Ansprüche, »was zur Abberufung der Priester
aus der Politik führte. Den einstigen Stützen von Thron und Altar war zwar der
Thron abhanden gekommen, um so mehr meinte man aber für den Altar gesorgt zu
haben.«55 Die Unterzeichnung des Konkordats war jedoch von seiner Symbolwir-
kung her um vieles bedeutsamer, als die faktischen Neuerungen, die es im kirchen-
rechtlichen Sinn mit sich brachte.
1.2.2 Das Konkordat von 1933/34 und die Verfassung vom 1. Mai 1934
Unabhängig von seinem tatsächlichen Gehalt wurde das Konkordat weitgehend
als Ausdruck der wiedererstarkten, an die Gegenreformation erinnernden Liaison
51 Ebd., 67.
52 Dollfuß, E.: Trabrennplatzrede (1933) ; Hanisch, E.: Der lange Schatten (1994), 315–317.
53 Engelbert Dollfuß zit. in Innitzer, T. u. a.: Weihnachtshirtenbrief (1933), 1 ; Hanisch, E.: Der Politi-
sche Katholizismus (1988), 61.
54 Zur Genese des berufsständischen Modells in der katholischen Sozialethik vgl. Anzenbacher, A.:
Christliche Sozialethik (1998), 140–149.
55 Binder, D. A.: Der »Christliche Ständestaat« (1997), 207.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353