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Kirche und Habitus im »Christlichen
Ständestaat«220
ten Einschätzung der tatsächlichen Situation im Weg standen. So deutet vieles da-
rauf hin, dass es sich bei der vermeintlichen religiösen Indifferenz vielmehr um eine
kirchliche Indifferenz handelt – die religiösen Sehnsüchte der Kärntner Bevölkerung
hingegen zeigten sich hier wie auch anderswo nicht zuletzt an den quasireligiösen
Hoffnungen, die man mit dem Vollzug des »Anschlusses« hegte.
Die Distanzierung von der katholischen Kirche konnte sich je nach Sozialgefüge
in unterschiedlicher Weise beobachten lassen : In Form von provokant zur Schau
gestellter Pietätlosigkeit, etwa wo Kleriker von »Hetzreden«, einem aufgebrachten
Mob oder dem Singen des Horst-Wessel-Lieds während Begräbnissen berichten ; in
Form von offenem Protest, wo dem Klerus spürbarer Hass entgegengebracht oder
der Religionsunterricht boykottiert worden sein soll – beide Formen zeugen eher
von hoher Emotionalität denn von Indifferenz im eigentlichen Sinne. Schließlich ließ
sich aber auch die Form eines diskreteren, womöglich abwartenden, inneren Wider-
stands erkennen.
Dieses So-Tun-als-ob, die »durch äußeren Zwang erfolgte Tarnung der eigentlichen
inneren Gesinnung« sei, so einer der oben zitierten Kleriker, »für jeden Kenner der
Verhältnisse offensichtlich.« So beteuerten manche Geistliche, dass man sich ihnen
gegenüber »nicht gehässig« und sogar »sehr freundlich« gebe und man auch, ganz
im Sinne des von Kuzmics und Axtmann verwendeten Begriffs des »Schau katho-
lizismus«398, an kirchlichen Feierlichkeiten wie etwa der Fronleichnamsprozession
teilnehme – »die wirkliche innere Gesinnung« vieler deute aber auf eine »fanatische
Anhänger[schaft] des Nationalsozialismus« und damit auf eine ebenso fanatische
Gegnerschaft zu Kirche und Staat (»fast bis zur Vernichtung des Katholizismus und
der österreichischen Regierung«) hin.
Der hier zum Vorschein kommende »Zeitgeist« lässt sich nun anhand eines ge-
meinsamen Wissensvorrates der Menschen jener Epoche näher herausarbeiten. Ihre
habituellen Prägungen stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zu den verfügbaren
identitätsstiftenden kollektiven Wissensbeständen. Letztere werden greifbar im kul-
turellen Gedächtnis.
3.3 Zur Komplementarität von Habitus und kulturellem Gedächtnis
Im bislang Erörterten wurde die Wahrnehmung der katholischen Kirche Kärntens
in unterschiedlicher Weise untersucht : Zunächst, im ersten Hauptteil, in einer his-
torisch-soziologischen Längsschnittstudie, die ob ihres Rückgriffs auf große Zeit-
räume notwendig skizzenhaft und überblicksartig bleiben musste. Dann, im zweiten
Hauptteil, wurde am historischen Endpunkt dieses Überblicks der so folgenschwere
Zeitraum des »Christlichen Ständestaates« genauer in den Blick genommen, um im
398 Kuzmics, H./Axtmann, R.: Autorität (2000), 149.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353