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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten110
gewonnener Freiheiten zu tun, sondern auch mit einer prekären Erntelage und den
Sanierungsmaßnahmen des Staatshaushaltes, die über eine harte Steuerpolitik um-
gesetzt wurden. So muss man von einem Auseinanderdriften der offiziellen Erin-
nerungstraditionen, die jene kurze Epoche als eine Zeit des heldenhaften Patrio-
tismus im kollektiven Gedächtnis zu verankern versuchte257 und dem tatsächlichen
Empfinden der Bevölkerung ausgehen. »Die dynastische Geschichtsauffassung, der
österreichische Staatspatriotismus und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmende
nationale Ressentiments haben die Überwindung des napoleonischen Kaiserreichs
als Befreiung betrachtet. Die Oberkärntner von 1813 und der Folgezeit haben das
trotz der Erschöpfung und Friedenshoffnung damals nicht durchwegs als beglü-
ckend empfunden.«258
Noch eine Generation später tauchen in den Quellen Äußerungen auf, wonach
man sich nach der wieder abgeschafften Zivilehe zurücksehne. »Das französische
Recht löste hier also durchaus positive Erinnerungen aus.«259 Die Zivilehe sollte erst
mit dem »Anschluss« an Nazi-Deutschland wieder Realität werden.
3.3 Kirche und Staat im Nationalen Zeitalter
Nach den Wirren der Napoleonischen Kriege und der Neuordnung Europas am
Wiener Kongress konnte sich mit dem metternichschen Vormärz-System eine auto-
ritäre Koalition von Herrscherhaus und Adel durchsetzen, für deren Aufrechterhal-
tung die Disziplinierung der Untertanen neue Dimensionen annahm. Die Polizei
wurde dazu von einer Wohlfahrts- zu einer Kontrollinstitution ausgebaut. Ein »weit-
gespanntes Netz von Spitzeln, Agenten und Provokateuren«260 führte in breiten Be-
völkerungskreisen zur bereitwilligen Hinnahme und Teilnahmslosigkeit in staats-
politischen Angelegenheiten, zugleich förderte es das oft als typisch öster reichisch
bezeichnete »Sudern«, eben das Kritisieren des Bestehenden, ohne den Impuls zu
einem aktiven Eingreifen in »das System«. Wesentliche Herrschaftsstütze dieses
Systems war die Bürokratie. War der Beamte des Josephinismus noch ein Idealist,
der sich als »Priester des Staates« im Dienst der allgemeinen Wohlfahrt engagierte,
wandelte sich das Beamtenethos unter Kaiser Franz mehr und mehr hin zum Ideal
des gehorsamen Befehlsempfängers. Die staatliche Förderung von Denunzianten
und Intriganten ging Hand in Hand mit Patronage, Protektion und Klientelismus
im Herrschaftsapparat.261
257 Darauf soll ausführlich in Teil III Kapitel 2.5 eingegangen werden.
258 Neumann, D.: Der Villacher Kreis (2009), 208.
259 Kohl, G.: Zivilrechtskodifikation (2009), 287.
260 Kuzmics, H./Axtmann, R.: Autorität (2000), 117.
261 Ebd., 117 f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353