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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis262
2.3.1 Türken, Ungarn und Bauern in Jakob Unrests Österreichischer Chronik
Jakob Unrest war 34 Jahre lang Pfarrer in St. Martin am Techelsberg und schilderte
als Zeitgenosse die osmanischen Verwüstungen, die politischen Reaktionen darauf
seitens der Stände und Landesfürsten sowie die Bauernunruhen im Gefolge der mi-
litärischen Machtlosigkeit derselben. Unrest wurde vermutlich um 1430 in Bayern
geboren und dürfte als Angehöriger der niederen Geistlichkeit verhältnismäßig hohe
Bildung genossen haben.167 Seine Berichte gelten heute als weitgehend verlässlich,168
wenngleich sie natürlich nicht unvoreingenommen sind. Als Kleriker war sein Urteil
von seinem milieubedingten Standpunkt gefärbt. Kaiser Friedrich III. kommt in sei-
nen Schilderungen schlecht weg, besser dagegen der Ungarnkönig Mattias Corvinus.
Die Bauernaufstände verurteilt Unrest scharf, waren sie in seinen Augen doch nicht
standesgemäß.
Unrest zeigt sich in seinen Aufzeichnungen zunächst erschüttert über die geringe
Gegenwehr des landständischen Aufgebotes und das damit einhergehende Ausgelie-
fertsein der Landbevölkerung.
Das soldt pillich ain yeder mensch ze hertzen nemen, das ain soliche klayne macht Turck-
hen, der man auf das mayst hat geschetzt achttausent, durch die drew lanndt, Kernndten,
Windische lanndt und Krayn mitsambt dem Kast, ungeeyrt und unbestrytten gezogenn
sindt und solichen grossen schaden getan haben und in nyemant kaynn widerstanndt getan
hat, dann wer sich hat muessen wern notturft seines leybs.169
Die Untätigkeit der Stände hatte weniger mit der moralischen Schwäche der Kärnt-
ner Eliten zu tun als mit den konkreten sozialgeschichtlichen Entwicklungen dieser
Zeit. Der Adel hatte sich im Spätmittelalter wesentlich umgestaltet, seine Vertreter
waren eben nicht mehr als wehrhafte, ritterliche Krieger sozialisiert worden, sondern
vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Bürgertums in Geldfragen geschult oder
zum Wissenserwerb erzogen. Die Verhaltensstandards wurden nur noch selten vom
aussterbenden ritterlichen Ethos geformt, der Wandel hin zum Berufssöldnertum
war längst im Gang. Damit wurde auch die Bindung des Kriegers an seinen Herren
durch das alte Vasallentum von der auf finanziellen Möglichkeiten beruhenden Bin-
dung der Söldner abgelöst.170
Eben an dieser Stelle waren es nun die Landstände, die finanzielle Zusagen an
den Landesfürsten erst bewilligen mussten bzw. blockieren konnten. 1475 wurde
167 Grossmann, K.: Einleitung (1957), VII.
168 Schlegl, I.: ›Türkenbilder‹ (2013), 260 f.
169 Unrest, J.: Österreichische Chronik (1957), 66.
170 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 595 f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353