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257Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
tenverfalls, der in der mangelnden Entsagungsbereitschaft, hervorgebracht durch
die Verirrungen der Moderne, zu suchen sei. Die gesellschaftlichen Bruchlinien or-
tete man in den Familien selbst, zwischen Mann und Frau wie zwischen Jung und Alt.
So ist auch das Frauenbild, das Hemma verkörpert, das Ideal der entsagungsbereiten
Frau, wie es gewiss auch in den 1930er Jahren vorherrschend war, zugleich aber jenes
einer durchaus Verantwortung übernehmenden Führungspersönlichkeit, die ihren
Untertanen stets mehr als fürsorgliche Mutter denn als selbstgerechte Herrscherin
gegenübertritt.143
Indem Viesèr die Zweifel an Hemmas Heiligkeit ausgerechnet der jüngsten der
geistlichen Schwestern in den Mund legt, thematisiert sie auch den Generationen-
konflikt ihrer Gesellschaft. Der moderne Geist des Nationalsozialismus reüssierte
vor allem unter den Jungen. Viesèr lässt in ihrer Szene die jugendliche Schwester
aber nicht rebellieren, sondern – auch das ist ein Ideal – reumütig den eigenen Irr-
weg eingestehen :
Schwester Himzila glitt vom Stuhl zu Boden und küßte die gelben Fliesen. ›Ich habe gesün-
digt‹, sprach sie leise mit zuckenden Lippen. ›Übel steht es mir an, etwas geringzuschätzen,
was ich selbst nicht zu tun vermöchte !‹144
Damit demonstriert die Schriftstellerin ihren Lesern und Leserinnen wohl auch, wie
sie sich die Lösung der längst aufgebrochenen Konfliktlinien vorstellt. Die Kritiker
und Kritikerinnen der Heiligsprechung Hemmas mögen reumütig ihren Fehler ein-
gestehen und den weisen Worten der kirchlichen Hirten lauschen.
2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk
Hemma von Gurk erschien 1938, kurz nachdem die Nationalsozialisten die Macht
übernommen hatten. Viesèr erinnert sich in einem Interview, wie die neuen Macht-
haber ihr zu verstehen gaben, sie wäre
143 So gesehen steht die Feststellung von Brigitte Till-Spausta, »[d]ie katholische Aristokratin, die ein
vorbildliches Frauenleben lebt, passt genau in die Zeit des Ständestaates«, jener Helga Abrets gegen-
über, die in Hemmas Frau-Sein einen deutlichen Widerspruch zum Frauenbild der Nazis, das sich
ja nicht wesentlich von jenem des Austrofaschismus unterschied, sieht. Abret, H.: Alternative (2006),
208–215. Till-Spausta, B.: Hemma von Gurk (2006), 114. Till-Spausta interpretiert ebd. übrigens die
von Viesèr dramatisierte anfängliche Unfruchtbarkeit Hemmas als eine »Schuld Hemmas […], da sie
zu wenig auf ihre ehelichen Pflichten eingeht.« M. E. handelt es sich hier eher um den erzähldrama-
tischen Typus der unfruchtbaren Frau, der im Alten Testament an den »Erzmüttern« Sarai, Rebecca,
Lea und Rahel sowie an Hannah als Stilmittel zur Dramatisierung der Verheißungserzählungen an-
gewandt wird.
144 Viesèr, D.: Hemma von Gurk (1965), 414.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353