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Kirche und Habitus im »Christlichen
Ständestaat«204
Über die Beweggründe zum Abfall vom kathol. Glauben befragt, erklärte J. T. dem Ge-
fertigten, er wolle nicht mehr katholisch sein ; zum Protestantismus trete er nur deshalb
über, weil dzt. in Österreich keine bessere Religionsgesellschaft existiere ; sein ›Ideal‹ sei
die ›deutsche Glaubensbewegung‹ im Reich. (Neuheidentum.)329
Die »deutsche Glaubensbewegung«, von der hier die Rede ist, konnte sich in den
Jahren 1933 bis 1938 nur im Untergrund formieren. Das untersuchte Archivmaterial
gibt letztendlich Einblick in jene, von Nationalsozialisten rückblickend als »System-
zeit« beschriebene Phase der illegalen Formierung der nationalsozialistischen Be-
wegung, wie sie von katholischen Geistlichen wahrgenommen wurde. Dieser Aspekt
bildet das folgende Kapitel dieser Analyse.
2.6 Die Nazi Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher
2.6.1 Kirchenferne und die nationalsozialistische Ersatzreligion
»[M]an kennt nur einen Herrgott dort u. das ist Hitler«330, berichtete der Dechant
von Friesach über das illegale nationalsozialistische Milieu in seinem Dekanat. Es
herrsche vielerorts »die ungestillte Sehnsucht nach neuer Führung und neuen Leh-
ren vom schon nahe geglaubten Paradies«331. Die Sehnsucht nach dem »Paradies«
war freilich jene nach »Erlösung aus dem Dritten Reich«332. Der »Anschluss« kann
als ersatzreligiöse Hoffnung, die der Nationalsozialismus bei vielen Kärntnern und
Kärntnerinnen weckte, bezeichnet werden. Der missglückte Juliputsch und die Un-
terdrückungsmaßnahmen des ständestaatlichen Regimes hatten jedoch »unter ganz
besonders fanatischen Leuten große Erbitterung darüber, daß der Glücksmorgen
des dritten Reiches hier gar nicht anbrechen will«333, hervorgebracht. »Man kann es
hier nicht für möglich halten, daß das, was durch den Juliputsch in greifbare Nähe
gerückt zu sein schien, nicht noch verwirklicht werden könne.«334 Die stärksten Im-
pulse zum Kirchenaustritt gingen somit von Personen aus, »die immer noch die
Eröffnung eines Schlaraffenlandes von Deutschland her erwarten.«335
Während diese Beobachtungen die ersatzreligiösen Züge des Nationalsozialis-
mus zur Sprache bringen, ist für die meisten Kleriker die religiöse Indifferenz seiner
Sympathisanten und Sympathisantinnen eines ihrer Merkmale. Heutigen Einsichten
zufolge wird man jedoch nicht annehmen dürfen, dass das, was die Geistlichen als
329 Neubauer, J.: Apostasieausweis pro Dezember 1936 (02.01.1937).
330 Neuwirther, F.: Abfallsbewegung Dekanat Friesach (08.08.1934).
331 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (09.10.1936).
332 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (07.01.1937).
333 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (10.02.1936).
334 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (05.11.1934).
335 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (01.08.1935).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353