Seite - 302 - in Die Kirche und die »Kärntner Seele« - Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
Bild der Seite - 302 -
Text der Seite - 302 -
Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis302
erscheinende Zeitschrift Österreichs und als eine der ältesten im deutschen Sprach-
raum.
Die lange dominante Erinnerungstradition des Landes täuscht aber in mancher
Hinsicht über die realen Verhältnisse hinweg, was vor allem für die Zeit französi-
scher Administration in Oberkärnten gilt. Die Grundentlastungen, die Liberalisie-
rung der Ehegesetze oder der Wegfall der Restriktionen des Toleranzpatents dürften
für weite Teile der Oberkärntner Bevölkerung verheißungsvolle Freiheiten bedeutet
haben, von denen man auch Gebrauch machte, wie etwa die Religionsübertritte je-
ner Jahre zeigen.323 Dieser Zwiespältigkeit in der Bewertung der Franzosenzeit trägt
vor allem des zweite herausgearbeitete Narrativ Rechnung, wie es im Tagebuch der
Scholastica Bergamin und in Viesèrs Nachtquartier zum Vorschein kam. Beide litera-
rischen Werke nehmen von einer Verdammung der französischen Fremdherrscher
Abstand und bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es ihnen gar nicht um die
Franzosen, sondern um die Kärntner und Kärntnerinnen geht. Während Sittenber-
ger im Tagebuch der Scholastica Bergamin den vermeintlichen Heldenmut und den
Patriotismus zumindest der Klagenfurter Stadtbevölkerung zum Mythos erklärt und
satirisch aufs Korn nimmt, geht es Viesèr im Nachtquartier um den Zusammenstoß
zweier Kulturen und die damit verbundenen konkreten Alltagssorgen, gegenseitigen
Vorbehalte, schließlich aber auch um jene Bereiche, wo man voneinander profitierte.
Insofern erscheint gerade Viesèrs Beleuchtung jener Zeit durchaus als differenziert,
fernab von jeder Stereotypisierung der Fremden.324 In diesem Narrativ ist also keine
Rede mehr von Heldenmut und Patriotismus, viel eher aber von den Abgründen
menschlicher – und damit gar nicht speziell kärntnerischer – Unzulänglichkeit. In
diesem Sinne sind beide besprochenen literarischen Werke trotz ihres völlig anderen
Entstehungskontexts ein Korrektiv für überzogene Wir-Bilder.
2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens am Beispiel von
Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920)
Für die Ausprägung des Kärntner Wir-Bildes zählen zweifellos Abwehrkampf und
Volksabstimmung zu den wesentlichen historischen Ereignissen jüngerer Zeit. Zwei-
fellos sind diese auch ein wichtiger Markstein in der langen Genese des Kärntner
Habitus. Ein Großteil des kulturellen Gedächtnisses dieses Landes bezieht sich auf
das Thema »Kärnten frei und ungeteilt«. Vereine wie der Kärntner Heimatdienst,
der Kameradschaftsbund, der Kärntner Abwehrkämpferbund oder die Kärntner
Landsmannschaft haben sich offiziell der Wahrung dieses kulturellen Gedächtnisses
verschrieben. Zahllose Gedenktafeln und -steine mit den Namen der Gefallenen be-
323 Wadl, W.: Bemerkungen (2011), 342, vgl. dazu auch die Ausführungen in Teil I Kapitel 3.2.
324 Abret, H.: Regionalgeschichte (2010), 650.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353