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ERSTER TEIL
Kirche und Habitusentwicklung in Kärnten
1 Missionierung und Christianisierung
Geht man davon aus, dass habituelle Prägungen langfristig und über viele Generati-
onen hinweg ausgebildet werden, lohnt es sich, bereits die Anfänge des langen Pro-
zesses der Christianisierung1 in Kärnten zu berücksichtigen. Schon die ersten Kon-
takte mit einer neuen Religion können sich im kollektiven Gedächtnis einer Gruppe
oder eines Volkes niederschlagen und so die Haltung zu ihrer institutionalisierten
Form langfristig prägen.2 Dazu sollen zunächst ein paar allgemeine Überlegungen
angestellt werden.
Die Akzeptanz einer neuen Religion und ihrer kirchlichen Organisation – so auch
des Christentums im Zuge der europäischen Christianisierung – hängt zunächst da-
von ab, ob diese langsam wachsen kann, wie bspw. im Falle Irlands, oder militärisch
aufoktroyiert wird, wie bspw. bei den germanischen Völkern. Die Christianisierung
der Germanen verlief nicht über individuelle Überzeugungsarbeit, sondern durch
kollektiven Übertritt infolge der Konvertierung des Stammesherrschers. Der indivi-
duelle Entschluss zur Taufe auf Grundlage einer vorbereitenden Katechese war den
germanischen Stammesgesellschaften fremd – der stammesreligiöse Kult war keine
Sache eines Individuums, sondern immer eine kollektive. Bekehrungen erfolgten
dementsprechend kollektiv, und zwar »von oben«.3
Dann ist es außerdem entscheidend, ob die neuen religiösen Formen und Forde-
rungen mit den tradierten, »primär« bestehenden religiösen Formen4 kompatibel
1 Im Folgenden wird unter Missionierung der religiös motivierte Impuls zur Bekehrung verstanden,
während Christianisierung als ein langfristiger kultureller Prozess zu sehen ist, der die institutionelle
Durchdringung eines Gebietes durch kirchliche Agenturen einerseits und die Formung religiöser
Überzeugungen und Verhaltensstandards seiner Bewohner und Bewohnerinnen andererseits meint.
Der Christianisierungsprozess ist immer wieder von »Dechristianisierungsschüben« durchsetzt und
reicht im Falle Kärntens weit bis ins Konfessionelle Zeitalter hinein.
2 Höllinger, F.: Volksreligion und Herrschaftskirche (1996), 140.
3 Bedeutend ist hier bspw. der Übertritt des Merowingers Chlodwig 496 zum römischen Christentum,
mit dem zugleich 3.000 seiner Gefolgsleute konvertierten. Seine Konversion war der Grundstein für
das den religionssoziologischen Typus Europa prägende Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Ebd.,
134–137.
4 Unter primärer Religion wird im Sinne des Religionswissenschaftlers Theo Sundermeier die jeweils
historisch und lokal gewachsene und vornehmlich in Kult und Ritual verankerte, regionale religiöse
Tradition verstanden. Vgl. Sundermeier, T.: Religion (2007).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353