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Kirche und Habitus im »Christlichen
Ständestaat«218
Inhalte, für die er stand. Man ließ sich über die Eucharistie ebenso aus wie über
den Papst. Vor allem aber war es die Beichte, die als illegitimer Eingriff in die In-
timsphäre erlebt und abgelehnt wurde. Daneben wurden auch wirtschaftliche Aus-
trittsgründe, die mit der Pfarrumlage oder der Grunderwerbspolitik der Kirche in
Verbindung standen, angeführt.
Solche Argumente konnte vor allem die evangelische Kirche aufgreifen, indem
sie – so zumindest die Berichte der katholischen Geistlichen – entsprechenden per-
sonellen und finanziellen Aufwand betrieb, um die Austrittswilligen aufzufangen.
Zugleich war es die ideologische Nähe des Protestantismus zum deutschnationa-
len Gedankengut, aber auch zur Tradition des Widerstandes gegen religiöse und
politische Unterdrückungserfahrungen, die aus den Massenaustritten Massenüber-
tritte werden ließ. Evangelische Pastoren, oft aus Deutschland, organisierten – häu-
fig gemeinsam mit einem Lehrer oder einer Lehrerin – Gottesdienste im örtlichen
Gasthaus, Bibelrunden und Vortragsabende oder wirkten im örtlichen Gesangs- oder
Turnverein als Multiplikatoren nationalsozialistischer Gesinnung.
Neben dem Rückgriff auf die protestantische Tradition konnte die nationalsozia-
listische Bewegung in Kärnten auch mit etablierten Propagandamaßnahmen wie der
systematischen Verteilung von Übertrittsformularen die katholische Kirche schwä-
chen. Dazu kamen aber auch die größtenteils utopischen Heilsversprechen eines pa-
radiesischen »Dritten Reiches« mit starker Führung und ökonomischem Wohlstand,
die der politischen Ideologie ersatzreligiöse Züge verliehen und bei der wirtschaft-
lich bedrängten Kärntner Bevölkerung Hoffnungen schürten.
Es wäre allerdings eine Verkürzung, die Kirchenaustrittsbewegung der 1930er
Jahre auf den Zeitgeist des Faschismus und Nationalsozialismus alleine zurückzu-
führen. In einigen Fällen wurde mit dem Austritt lediglich die »Gunst der Stunde«
genutzt, um infolge einer Scheidung nach dem Aus- bzw. Übertritt wieder heiraten
zu können. Andere wiederum traten zur altkatholischen Kirche über oder bekannten
sich zu Endzeitgemeinden wie den »Bibelforschern« (Zeugen Jehovas), oder, beson-
ders im Lavanttal, zu den Siebten-Tags-Adventisten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Analyse, dass die Kirchenaustritte der 1930er
Jahre differenziert wahrgenommen werden müssen. Keinesfalls können sie aus den
zeitgeschichtlichen Zerwürfnissen alleine erklärt werden – sie sind vielmehr ein
Auslöser für tief im kollektiven Gedächtnis verankerte Erfahrungen, die schließlich
jene historisch gewachsene »Disposition« bilden, die in diesem Buch als »Kärntner
Seele«, oder besser : als Kärntner Habitus bezeichnet wird.
3.2 Zum mentalitätsgeschichtlichen Ertrag des analysierten Archivmaterials
Die faktengeschichtlich auswertbaren Ereignisse und Prozesse sind nicht recht
verstehbar, wenn man die dahinterliegenden Beziehungsdynamiken zwischen den
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353