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31Theoretische
Vorüberlegungen
dass wesentliche Begrifflichkeiten in diesem Buch aus den interdisziplinären Bemü-
hungen ihrer Vordenker entstammen und in den meisten Fällen jene Schnittmenge
widerspiegeln. Wenn etwa der (Kirchen-)Historiker Heinz Schilling vom »religions-
soziologischen Typus Europa«68 spricht, ist der Bezug zur Nachbardisziplin schon im
Begriff enthalten. Ebenso ist der kirchengeschichtlich etablierte Begriff der »Kon-
fessionalisierung« nicht ohne den Begriff der »Sozialdisziplinierung«69 denkbar, der
im Wesentlichen vom Historiker Gerhard Oestreich geprägt wurde,70 selbst aber
wiederum wichtige Einsichten aus der Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert
Elias enthält.71 Ebenfalls von einem Soziologen – Maurice Halbwachs – beeinflusst
ist der Begriff des »kulturellen Gedächtnisses«, den der Ägyptologe und Kulturwis-
senschaftler Jan Assmann geprägt hat.72 So wie Elias beruft sich auch er in weiten
Teilen seiner gedächtnisgeschichtlichen Arbeiten auf Sigmund Freud, wenngleich
beide Denker andere Interessen an dessen Werk haben. Im folgenden Kapitel sollen
die wichtigsten theoretischen Überlegungen in Verbindung mit diesen Begrifflich-
keiten geschildert werden.
3.1 Soziologische Grundannahmen
Eine Grundannahme zur Bearbeitung der hier verfolgten Fragestellung geht davon
aus, dass sich die Beziehung von Menschen zu gesellschaftlichen Institutionen, wie es
Kirche und Staat sind, über langfristige, generationenübergreifende Prozesse wan-
delt bzw. verfestigt. Das Individuum entwickelt eine bestimmte Haltung zu solchen
Institutionen nicht nur aufgrund eigener biographischer Erfahrungen, sondern wird
in eine Gesellschaft hineingeboren, die bereits eine Geschichte mit diesen Institutio-
nen hat. So eignet sich das Individuum im Verlauf seines Sozialisationsprozesses, also
im Laufe seines Hineinwachsens in die Gesellschaft, die bewussten und unbewussten
Haltungen und Zwänge seiner sozialen Umwelt an und internalisiert sie.73 Norbert
Elias hat in diesem Prozess die Verinnerlichung des jeweiligen Zivilisationsstands
einer Gesellschaft gesehen, also das Ergebnis jenes anfangslosen und ungeplanten
68 Schilling, H.: Der religionssoziologische Typus (1999).
69 Schilling, H. (Hg.) : Kirchenzucht (1994).
70 Schulze, W.: Oestreichs Begriff (1987).
71 Winkelbauer, T.: Sozialdisziplinierung (1992), 317–320.
72 Vgl. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis (1992) ; Assmann, J.: Erinnern (1995) ; Assmann, J./Höl-
scher, T. (Hg.) : Kultur (1988).
73 Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben diesen Prozess als »Welterrichtung« beschrieben und
in dem Dreischritt »Externalisierung – Objektivierung – Internalisierung« begrifflich gefasst. Vgl.
Berger, P. L./Luckmann, T.: Konstruktion (2004) und zusammengefasst Berger, P. L.: Zur Dialektik
(1973), 3–19.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353