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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis252
2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten
Die fromme, zartbesaitete Schriftstellerin aus der Bergwerksgemeinde Hüttenberg
mochte in ihrer Kindheit den Knappenstand als grobschlächtig und roh erlebt haben.
Im Kontext des sich anbahnenden Knappenaufstandes, in dem der Legende und dem
Roman zufolge Hemmas beide Söhne erschlagen werden, beschreibt Viesèr jene ha-
bituellen Ressentiments gegenüber den Eliten, die in der Kärntner Geschichte schon
so oft begegnet sind. Die folgende Passage stellt eine zeitlose Schimpfrhetorik der
»einfachen Leute« dar, die man auch an den Wirtshausstammtischen der Gegen-
wart hören könnte (vorausgesetzt, man sieht in den Hauptbeschuldigten generell die
herrschenden Eliten), und sicherlich auch vielen Lesern und Leserinnen von Viesèrs
Roman als gegenwartsrelevante Elitenkritik erschien. Wilhelm, Hemmas Erstgebo-
rener, berichtet der Mutter von dem sich anbahnenden Knappenaufstand, der von
Adalbero von Eppenstein angeheizt werde :
›Nicht lange vor Pfingsten waren wir in Kolnitz, der Vater und ich. Wir ritten über die Sau-
alm heim, durch die Stelzing heraus ins Görtschitztal. Unterwegs trafen wir auf eine Schar
von Knappen, die schreiend und fluchend durch den Graben hinwanderten. Ich fragte sie,
was sie denn hätten. Da brachen sie in wüste Schimpfereien gegen den Kaiser aus. Er lasse
es sich in Rom und im Reiche wohlergehen, doch um die Kärntner kümmere er sich nie,
außer wenn er Abgaben eintreiben wolle oder Männer für den Krieg brauche. Die Herren
dürften unbehindert die Bauern und Knappen bedrücken soviel sie wollten, die Gesetze
seien alle für die sicheren und reichen Verhältnisse im Reiche zugeschnitten, nicht für uns,
die wir ohnehin solch hartes Leben hätten.‹127
Interessant ist nun, dass Viesèr aus umgekehrter Perspektive erzählt, aus jener des
»Establishments« nämlich, die in der Person Hemmas und ihrer Familie als gerechte
und um die Untertanen besorgte Eliten gezeichnet werden. Dieser Sicht zufolge
gehe der, neudeutsch gesprochen, »Hate Speech« der Knappen also an der Reali-
tät vorbei und sei durch gezielte »Hasspredigten« provoziert worden. Der radikale
Hassprediger wird auch umgehend identifiziert : Es ist Adalbero von Eppenstein, der
Kärntner Herzog und Gegenspieler Hemmas.128 »Hemma wußte, daß ganz Deutsch-
127 Viesèr, D.: Hemma von Gurk (1965), 281.
128 Auch Helga Abret sieht die Figur Adalberos als Spiegelbild eines nationalsozialistischen Populisten.
»Wie ein Mensch zum Führer wird, wie er sich bei seinem Aufstieg anderer, oft wohlmeinender
Menschen bedient und sich ihrer dann entledigt, wie er ein Volk verführt und ins Verderben reißt,
das alles demonstriert Viesèr an Hemmas Gegenspieler Adalbero von Eppenstein. Adalbero ist ein
charismatischer Mann und ein geschickter Demagoge, der die Massen zu manipulieren versteht[.]«
Abret, H.: Alternative (2006), 211 f.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353