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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis246
aber dieser Versuchung stand. Dabei bleibt jedoch nicht unbemerkt, wie die deut-
sche Standhaftigkeit gerade unter den Kärntnern herausragt.
2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen«
Viesèr verbindet den »Mythos vom Wächter an der deutschen Südgrenze«, der mit
Abwehrkampf und Volksabstimmung zu einem prägenden Bestandteil Kärntner
Identität geworden war, mit der relativen Machtlosigkeit der politischen Zentral-
gewalt – im Roman mit jener der Kärntner Herzöge im Mittelalter. Kaum einer der
ausländischen Herzöge betrat Kärntner Boden – hervorragende Voraussetzungen für
die Ausbildung einer lokalen Herrschaftselite – und wenn doch, dann hatte man es
sich so vorzustellen, wie Viesèr es in folgender, durchwegs doppeldeutiger Passage
beschreibt, in der der Kärntner Herzog Konrad I. zum Gerichtstag nach St. Veit
gekommen war.
Es war für ihn als Landfremden so schwierig, den König zu vertreten – hier unter diesen
großen Wächtern deutscher Grenze, die schon so oft für das Reich geblutet hatten und so
oft im Stich gelassen worden waren. Sie hatten sich so oft selber helfen müssen ; nun waren
sie selbstherrlich, stolz und überaus empfindlich gegen den leisesten Schein eines Mißtrau-
ens. Sie lebten wie sie wollten, buhlten und rauften und wehrten sich gegen Sitte und Recht.
Doch sie wußten es alle bis in den tiefsten Schlaf : Bessere Deutsche und männlichere Re-
cken gab es im ganzen Reiche nicht, wenn sie auch nicht auf seidenen Pfoten gingen und
nicht wie Sänger und Gaukler von Minne flöteten.105
Viesèr transformiert hier glänzend einige Aspekte dessen, was die »Kärntner Seele«
im 20. Jahrhundert ausmacht, an den Beginn des Kärntner Staatsbildungsprozesses.
Was sich über Jahrhunderte als regionaler Habitus herausgebildet hat, ist hier ge-
wissermaßen überzeitlich, als »rassischer« Wesenszug festgelegt – im Sinne von »es
war schon immer so«. Stolz, sensibel und misstrauisch sei man hier schon immer ge-
wesen, außerdem widerständig gegen »Sitte und Recht« – retrospektiv gesehen also
gegen den kirchlichen Gewissenszwang und das staatliche Gewaltmonopol. Darüber
hinaus verknüpft die Autorin geschickt das Narrativ vom Kärntner Grenzwächter
mit der ständestaatlichen Ideologie von den »besseren Deutschen« – zeitgenössi-
schen Lesern und Leserinnen wird damit unwillkürlich der Abwehrkampf vor Augen
geführt, der hier gleichsam als überzeitliche Konstante des Kärntnertums erscheint.
An einer anderen Stelle werden die beschriebenen Wesenszüge fast humorvoll
karikiert. Viesèr konstruiert ein Streitgespräch zwischen Wilhelm, den (zu diesem
Zeitpunkt des Erzählverlaufs noch zukünftigen) Gatten Hemmas, und Heinrich,
105 Ebd., 161.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353