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Einleitung32
Prozesses der Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge, der das Individuum unwei-
gerlich an die Erfahrungen und Widerfahrnisse seiner Vorfahren kettet.74
Der Zivilisationsprozess ist der Wandel menschlichen Verhaltens und Empfindens
in eine bestimmte Richtung, allerdings ohne rational geplant oder bewusst herbei-
geführt zu sein. Vielmehr resultieren aus den Handlungsverflechtungen einzelner
Menschen unvorhersehbare, nicht planbare Ordnungszusammenhänge und Zwänge,
die auf die Menschen wirken.75 Damit ist die psychische Verhaltensregulierung eines
Menschen stark verflochten mit der Makrostruktur der Gesellschaft, in der er lebt. Je
stabiler die gesellschaftlichen zentralen Leitungsorgane sind, je straffer ihre Organi-
sation, desto stabiler die Verhaltensstandards des Individuums. Gewaltmonopole, die
durch das Zentralorgan garantiert werden können, generieren gewaltfreie Räume
und führen langfristig zur »Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung der
Affekte, Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus«76.
Seinen Ausdruck findet dieser Prozess im sozialen Habitus des Individuums. Mit
dem Begriff Habitus ist die soziale Persönlichkeitsstruktur eines Menschen gemeint,
also jene Eigenheiten, die ein Individuum mit den anderen Menschen seiner Gruppe
oder Gesellschaft gemeinsam hat. In den Worten von Elias : »[J]eder Mensch […]
trägt ein spezifisches Gepräge an sich […], das er mit anderen Angehörigen seiner
Gesellschaft teilt. Dieses Gepräge, also der soziale Habitus der Individuen, bildet
gewissermaßen den Mutterboden, aus dem diejenigen persönlichen Merkmale he-
rauswachsen, durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Mitgliedern seiner
Gesellschaft unterscheidet.«77
Hinter dem Habituskonzept steckt die Idee des Körpers als Speicher sozialer Er-
fahrungen. Der Habitus umfasst das Gesamte des persönlichen Auftretens und geht
damit über das Konzept der sozialen Rolle weit hinaus. Im Habitus drückt sich eine
langfristige, generationenübergreifende Formung sozialer Verhaltensstandards aus,
die den Affekt- und Emotionshaushalt ebenso umfasst wie Mimik und Gestik, Ge-
schmack und Kleidungsstil oder sprachliche Dialektfärbung.
Der Habitusbegriff, der ja auch in der Biologie gebräuchlich ist, wurde im sozio-
logischen Zusammenhang u. a. schon von Max Weber verwendet, in der Soziolo-
gie Norbert Elias’ erhielt er jedoch einen zentralen Stellenwert,78 wenngleich erst
74 Elias, N.: Prozeß der Zivilisation II (1997), besonders 323–346.
75 Ebd., 323 f.
76 Ebd., 331–333, hier 333.
77 Elias, N.: Individuen (1987), 244.
78 Der Habitusbegriff spielt im gesamten Werk von Norbert Elias eine Rolle, besonders aber zunächst in
seiner einflussreichen Studie Über den Prozeß der Zivilisation (1939), in stärker systematisierter Hinsicht
dann in Die Gesellschaft der Individuen (1987) und, im Hinblick auf einen nationalen Habitus, in Studien
über die Deutschen (1990).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353