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35Theoretische
Vorüberlegungen
Gerade in Kärnten erscheint die Stärkung der Wir-Gruppe gegenüber Bedrohun-
gen von außen auf historisch wiederkehrende Konstellationen zu verweisen. Das gilt
nicht nur für die gelegentlich als »Urangst« phantasierte Bedrohung durch »die Sla-
wen« nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, welche bis heute auf den
Minderheitenkonflikt rückwirkt. Wie noch zu sehen sein wird, sind auch andere be-
drohliche Zugriffe von außen ein wesentlicher identitätsstiftender Faktor, der seinen
Niederschlag im kulturellen Gedächtnis des Landes gefunden hat. Diese sind nicht
nur militärischer Art, wie die Türkeneinfälle oder die Franzosenkriege, sondern be-
ziehen sich auch – ganz im Sinne von Elias’ Zivilisationstheorie – auf Zugriffe des
Staates und den Gewissenszwang der Kirche, wie das im Konfessionellen Zeitalter
und dann noch einmal im »Christlichen Ständestaat« der Fall war.87
Um solche Konfliktlinien, wie sie nicht nur zwischen militärischen Einheiten,
sondern eben auch innerhalb einer Gesellschaft auftreten können, theoretisch und
begrifflich besser fassen zu können, ist der ebenfalls aus der Soziologie von Norbert
Elias stammende Begriff der Figuration hilfreich. Figurationen sind Verflechtungs-
konstellationen einzelner interdependenter Individuen. Der Vorteil dieses Begriffs
besteht darin, dass er auf unterschiedliche Integrationsebenen anwendbar ist. »Man
kann ihn [den Figurationsbegriff, Anm. d. Verf.] auf relativ kleine Gruppen ebenso
wie auf Gesellschaften, die Tausende oder Millionen interdependenter Menschen
miteinander bilden, beziehen. Lehrer und Schüler in einer Klasse, Arzt und Pati-
enten in einer therapeutischen Gruppe, Wirtshausgäste am Stammtisch, Kinder
im Kindergarten, sie alle bilden relativ überschaubare Figurationen miteinander,
aber Figurationen bilden auch Bewohner eines Dorfes, einer Großstadt oder einer
Nation«88.
Elias’ Begriff der Figuration macht deutlich, dass »die Gesellschaft« nicht ein
außerhalb des Individuums existierendes Wesen hat, sondern gerade aus einer Viel-
zahl von miteinander interdependenten, also in bestimmter Weise voneinander ab-
hängigen und in Beziehung stehenden Menschen gebildet wird. Da Menschen in
unterschiedlichen Zusammenhängen miteinander in Beziehung treten können, bil-
den sie Figurationen unterschiedlicher Integrationsstufen.89 Für den Kontext dieser
Arbeit ist dieser Begriff hilfreich, wenn von Figurationen wie »Kirche« oder »Staat«
die Rede ist. Auch Kirche ist stets ein Interdependenzgeflecht von aufeinander be-
wieder verdunkelt wurde. »Es gehört zu den erstaunlichsten Eigentümlichkeiten vieler gegenwärtiger
soziologischer und nicht zuletzt vieler ökonomischer Theorien, daß sie die zentrale Rolle, die spezifi-
sche Spannungen und Konflikte im Zuge jeder Gesellschaftsentwicklung spielen, kaum beachten. […]
Sie und ihr Ausgang bilden in vielen Fällen das Kernstück eines Entwicklungsprozesses.« Elias, N.:
Was ist Soziologie ? (1971), 193.
87 Elias, N.: Individuen (1987), 192 ; Müller, B.: Identität (2009), 59.
88 Elias, N.: Was ist Soziologie ? (1971), 141–143.
89 Ebd., 10–12.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353