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Einleitung36
zogenen Individuen, das in sich wiederum aus verschiedenen Figurationen un ter-
schiedlichster Integrationsebenen besteht. Nicht selten beobachtet man bspw. in-
nerkirchliche Konfliktlinien zwischen der Leitungsebene und dem niederen Klerus
oder zwischen Klerus und Laien, zwischen Pfarrern und Pfarrgemeinde usw. Nicht
selten reproduzieren solche Konfliktlinien die Mechanismen einer »Etablierten-
Außenseiter-Figuration«, wie sie Elias und John L. Scotson in ihrer einschlägigen
Studie90 beschrieben haben.
Zugleich ist die katholische Kirche aber als Institution auch ein Teil einer Figu-
ration auf höherer Integrationsebene und tritt als völkerrechtliches Subjekt auch in
machtpolitische Beziehungen zu anderen Staaten. Auf dieser Ebene verfolgen ihre
Akteure ebenso Interessen – ganz im Sinne Max Webers : »Interessen (materielle
und ideelle), nicht : Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen.«91
In Rückbezug auf das Selbstverständnis der Kirche ist nun besonders der zweite Teil
von Webers berühmtem Zitat bedeutsam : »Aber : die ›Weltbilder‹, welche durch
›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt,
in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. Nach dem Weltbild
richtete es sich ja : ›wovon‹ und ›wozu‹ man erlöst sein wollte und – nicht zu verges-
sen – konnte.«92
Die ekklesiologische »Idee«, von Christus selbst über die pfingstliche Ausgießung
des Geistes als Gemeinschaft der Christen und Christinnen zur Verkündigung des
Evangeliums »herausgerufen« zu sein, muss insofern also als ursächliche Motivation
kirchlichen Handelns mitberücksichtigt werden – wenngleich die Dynamiken der
Interessen kirchlicher Akteure (und viel seltener : Akteurinnen) stets als Figurations-
dynamiken verstanden werden müssen, in denen Einzelpersonen im komplexen Ge-
flecht historischer Verkettungen nur geringer Handlungsspielraum zukommt. Es ist
daher für diese Arbeit nicht von besonderem Interesse, ob bspw. die Rolle Fürstbi-
schof Hefters im Ständestaat als »nazifreundlich« bezeichnet werden müsse oder
nicht. Hefter handelte im Rahmen seiner Möglichkeiten und versuchte zweifellos,
die Interessen der Kirche zu wahren. Sein Handlungsspielraum war aber angesichts
der schwierigen politischen Situation, die sich nicht zuletzt in der erstarkenden Nazi-
Bewegung und ihrer erfolgreichen Kirchenaustrittspropaganda zeigte, begrenzt.
Überdies sind auch Menschen, deren Handeln sehr stark von ihren religiösen
Überzeugungen geprägt ist, stets »Kinder ihrer Zeit« – ihr Umgang mit kör per li cher
Gewalt, mit Zwang und Widerstand, die Anwendung eines bestimmten Tu gend-
kata loges oder Wertekanons, kurz : ihre »Zivilisiertheit«, ist stark von den in ihrer
Gesellschaft geltenden Verhaltensstandards abhängig, über die man sich kraft seiner
90 Elias, N./Scotson, J. L.: Etablierte und Außenseiter (2002), vor allem 7–56.
91 Weber, M.: Die Wirtschaftsethik (2002), 590.
92 Ebd.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353