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37Theoretische
Vorüberlegungen
Überzeugungen nicht einfach hinwegsetzen kann. Norbert Elias hat diesen Umstand
so beschrieben : »Die Religion, das Bewußtsein der strafenden und beglückenden
Allmacht Gottes, wirkt für sich allein niemals ›zivilisierend‹ oder affektdämpfend.
Umgekehrt : Die Religion ist jeweils genau so ›zivilisiert‹, wie die Gesellschaft oder
wie die Schicht, die sie trägt.«93 Diese Sichtweise hat Elias zwar zuweilen Kritik
eingebracht94 bzw. zu entsprechenden Adaptionen seines Ansatzes geführt.95 Wenn
man aber die teils weit vom Ideal des Evangeliums entfernten machtpolitischen Ver-
flechtungen und Herrschaftsinteressen der Kirche(n) im Laufe ihrer Geschichte ver-
stehen will, ohne ihr Handeln auf die entsprechenden Charaktereigenschaften ihrer
Akteure zu reduzieren, erweist sich dieser Zugang als zwingend.
Die Stärke des Elias’schen Begriffsinstrumentariums liegt schließlich im Versuch,
dem Problem des Mikro-Makro-Dualismus, wie er auch an diesem Beispiel deutlich
wird, theoretisch Herr zu werden.96 In ihm zeigt sich, dass Prozesse auf staatlich-
politischer Ebene auf die Ebene der persönlichen Beziehungen der Menschen zu-
rückwirken und denselben Verflechtungsmechanismen unterliegen. Letztlich sind
diese Interdependenzgeflechte Machtbeziehungen – ein Umstand, der besonders im
Hinblick auf kirchliches Handeln nicht immer mit der gebotenen Werturteilsfreiheit
behandelt wird, da der Begriff der »weltlichen Macht« im christlichen Sinn diamet-
ral der Idee des in äußerster Ohnmacht gekreuzigten Christus entgegensteht.
Macht, im Sinne Max Webers verstanden als »Chance, innerhalb einer sozialen
Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«97, existiert
nicht außerhalb menschlicher Beziehungen. Sie hat kein abstraktes Wesen, dessen
man sich unter besonderen Umständen oder Begabungen bedienen könne – diese
Vorstellung entspringt dem magisch-mythischen Denken. Macht ist vielmehr ein
Ergebnis menschlicher Interdependenzen. Zwar wird heute der Begriff Macht ten-
denziell negativ wahrgenommen, weil er häufig in Bezug auf ungleich gewichtete
Machtbalancen verwendet wird, was sich in Begrifflichkeiten wie jenem des »Macht-
missbrauchs« infolge des »Machthungers« bestimmter Personen und jenem der
»Ohnmacht« von davon in Mitleidenschaft gezogenen »Opfern« zeigt. Aus sozio-
93 Elias, N.: Prozeß der Zivilisation I (1997), 370.
94 Vgl. dazu bspw. Angenendt, A.: Prozeß (1994) und Ebenbauer, A.: Mittelalter (1985). Elias war stark
von den Überzeugungen der Aufklärung geprägt, die Welt wissenschaftlich durchdringen zu können
und hielt religiöse Vorstellungen grundsätzlich für Phantasiebilder, die die »völlige Gleichgültigkeit
des blinden nicht-menschlichen Naturgeschehens« verschleiern würden. Elias, N.: Humana conditio
(1985), 13.
95 Vgl. u. a. Hahn, A.: Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion (1986) ; Uhl, F.: Lust (1998) ; Turner,
B. S.: Weber and Elias (2004) ; Goudsblom, J.: Christian religion (2004) ; Mennell, S.: American Reli-
giosity (2010).
96 Dorner-Hörig, C.: Habitus und Politik (2014), 19.
97 Weber, M.: Soziologische Grundbegriffe (2002), 711.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353