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Einleitung40
Wahrnehmung, Interaktion und Kommunikation geprägt und gespiegelt. Kollektive
stellen den Rahmen zur Verfügung, in dem Gedächtnis generiert wird.108
Kollektive Erinnerungen sind immer an einen konkreten Ort und eine konkrete
Zeit gebunden. »Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich
Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsfor-
men abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung
sind.«109 Für Kärnten können solche Erinnerungsorte mit symbolischer Kraft mü-
helos benannt werden, wenn man bspw. an das Zollfeld bzw. den Herzogstuhl denkt,
den Dom zu Gurk besucht oder das Landhaus in Klagenfurt besichtigt.
Neben der Raum- und Zeitbezogenheit ist das kollektive Gedächtnis aber auch
gruppenbezogen. Schon Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass ein gemeinsames
Gedächtnis von wesentlicher Bedeutung für die Gruppenkohäsion ist.110 »Wer an
ihm teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugehörigkeit.«111 Die Individuen haben
affektive und wertbesetzte Bezüge zu den Gedächtnisinhalten ihrer Gruppe, ver-
knüpfen damit Bedeutung und Sinn, Heimat und Zugehörigkeit. Damit entsteht ein
Selbstbild der Gruppe, das die »Eigenart« der eigenen Gruppe betont – man denke
an den Spruch »Kärnten ist anders« –, zugleich dabei die Heterogenität innerhalb
der eigenen Gruppe abschwächt und die Differenz nach außen überhöht.112 Erwin
Ringel hat dieses Phänomen als wichtigen Faktor der »Kärntner Seele« benannt :
»[F]ür uns die besten Eigenschaften ; unsere schlechten sind verschwunden – die
findet man dafür mühelos in der Minderheit, im Nachbarvolk und so weiter.«113
Selbstverständlich sind die erinnerten Inhalte stets rekonstruierte und damit nie-
mals reine Fakten. Der einen Geschichte stehen die vielen Geschichten der Kollek-
tive gegenüber. Das kollektive Gedächtnis einer Wir-Gruppe erinnert die eigene
Gruppengeschichte als unwandelbar.114 Identitätsformende Erinnerungen wie bspw.
jene an den Kärntner Abwehrkampf werden stabilisiert, indem die grundlegenden,
sinnstiftenden Aussagen alternativen Deutungen gegenüber resistent sein sollen.
Werden gängige kollektive Erinnerungsmuster wie etwa jenes, dass die Kärntner
Abwehrkämpfer von der Wiener Zentralverwaltung »im Stich gelassen wurden«,115
108 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis (1992), 34–36.
109 Ebd., 39.
110 Assmann, A.: Erinnerungsräume (2006), 131 f.
111 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis (1992), 39.
112 Ebd., 40.
113 Ringel, E.: Kärntner Seele (2000), 51. Zum Begriff der Kärntner Seele sei bemerkt, dass der »Spei-
cherort« des kollektiven Gedächtnisses nicht als eine organische oder metaphysische Trägerinstanz
im Sinne einer kollektiven Seele verstanden werden darf. Kollektive Gedächtnisinhalte werden über
gemeinsame Zeichen und Symbole gespeichert. Assmann, A.: Erinnerungsräume (2006), 132.
114 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis (1992), 42 ; Assmann, A.: Erinnerungsräume (2006), 131 f.
115 Karl Anderwald bezeichnet den Mythos von der unterlassenen Hilfeleistung durch die Zentralregie-
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353