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43Theoretische
Vorüberlegungen
auch subversiver Widerstand der Verlierer der Geschichte, der Geknechteten sein.
»Das Motiv der Gegenerinnerung, deren Träger die Besiegten und Unterdrückten
sind, ist die Delegitimierung von Machtverhältnissen, die als oppressiv erfahren
werden.«128 Die Erinnerung der Widerstandsgruppe wird zu einer Gegen-Identität,
die sich von der herrschenden Identitätsformation abgrenzt. »Distinktiv gesteigerte
Identität ist eine ›Gegen-Identität‹ (›counter-identity‹), eine Widerstandsbewegung.
Gegen-Identitäten werden nicht gegen das kulturlose Chaos, sondern gegen die do-
minierende Kultur ausgebildet und aufrechterhalten, wie es der typische Fall von
Minderheiten ist.«129
Als wichtigstes Medium der Abgrenzung dient häufig die Sprache, wie das bei den
slowenischsprachigen Kärntnern und Kärntnerinnen der Fall ist. Es kann aber auch
die religiöse bzw. konfessionelle Zugehörigkeit sein, wie am Beispiel des Protestan-
tismus noch zu sehen sein wird.
Transportiert wird eine Gegen-Identität über eine Gegen-Geschichte, eine »Coun-
ter Story«. In ihr sollen die herrschenden Eliten und ihre Erinnerungstraditionen in
mehr oder weniger subversiver Form unterwandert bzw. delegitimiert werden. Ein
solcher Fall soll in der vorliegenden Arbeit anhand des von der Kärntner katholi-
schen Schriftstellerin Dolores Viesèr verfassten Romans Hemma von Gurk, entstan-
den 1938 im Kontext des »Anschlusses« Österreichs an Nazi-Deutschland, näher
beleuchtet werden. Viesèrs Roman sollte im Kontext des Heiligsprechungsprozes-
ses Hemmas von Gurk dem vorherrschenden faschistischen Zeitgeist in der mit-
telalterlichen Heiligen eine versöhnende Identifikationsfigur entgegenstellen. Die-
ses Beispiel soll auch zeigen, dass die Rekonstruktion von Inhalten des kulturellen
Gedächtnisses stets gegenwartsspezifisch ist. Die erinnerten Ereignisse mögen zwar
Fixpunkte sein, ihr jeweiliger Deutungsrahmen wird aber wesentlich von den Be-
dürfnissen der Gegenwart bereitgestellt.130
Die Untersuchung solcher identitäts- und etwaiger gegenidentitätsstiftender In-
halte des kulturellen Gedächtnisses folgt dem Ansatz der Gedächtnisgeschichte. Jan
Assmann hat diesen Ansatz in seiner Untersuchung Moses der Ägypter (1998) vorge-
stellt.131 »Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinn geht es der Gedächt-
nisgeschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um die Vergangenheit,
128 Assmann, A.: Erinnerungsräume (2006), 139.
129 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis (1992), 154.
130 Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis (1988), 13.
131 Assmanns Moses der Ägypter löste eine bis heute andauernde Debatte um die darin enthaltene These
von der inhärenten Sprache der Gewalt in den kanonisierten Texten der monotheistischen abraha-
mitischen Religionen aus. Vgl. für die Untersuchung der Debatte bis 2008 Thonhauser, J.: Das Un-
behagen (2008). Sein gedächtnisgeschichtlicher Ansatz wurde dabei jedoch durch diesen Fokus der
Debatte weitgehend ausgeblendet und zum Teil missverstanden.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353