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Einleitung44
wie sie erinnert wird.«132 Assmann versteht sie als einen Zweig der Geschichtswis-
senschaft, der es nicht um Fakten- oder Realgeschichte geht, sondern um die Rezep-
tion historischer Ereignisse, um die Verformung der jeweiligen Erinnerung an sie.
»Erinnerungen können falsch, verzerrt, erfunden oder künstlich implantiert sein«133.
Der Gedächtnisgeschichte geht es nicht um die Herausschälung eines vermeintlich
»wahren« historischen Kerns von mythisch überformten Überlieferungen, also einen
historisch-kritischen Zugang, sondern um die Nachverfolgung dieser mythischen
Überformungen, die stets aus dem Bedürfnis einer sich verändernden Gegenwart
entspringen. »Geschichte verwandelt sich in Mythos, sobald sie erinnert, erzählt
und ›bewohnt‹, d. h. eingewoben wird in das Gewebe der Gegenwart.«134 Der Kärnt-
ner Abwehrkampf bspw. ist historisches Faktum, seine Entstehungsgeschichte, sein
Ablauf und sein Ausgang minutiös erforscht. Im Rückbezug der Gegenwart auf den
Abwehrkampf wird er aber unweigerlich zum »Mythos«, sofern er identitätsstiftende
Relevanz besitzt. Für ihn gilt, was Assmann am Beispiel der jüdischen Festungsan-
lage Masada veranschaulicht : »Seine mythische Funktion entwertet in keiner Weise
seine Geschichtlichkeit«135, die aber eben zum Mythos wird, indem sie im kulturel-
len Gedächtnis erinnert, tradiert und erzählt wird. »Die geschichtswissenschaftliche
Erforschung der Ereignisse sollte sorgfältig unterschieden werden von der Erfor-
schung ihrer Erinnerung, Überlieferung und Verwandlung im kollektiven Gedächt-
nis der betroffenen Gruppen.«136 Als solches ist sie fortlaufende Rekonstruktionsar-
beit, die von den jeweiligen Sinnbedürfnissen der sich erinnernden Individuen oder
Figurationen abhängt. Das Erzählen über sich selbst, als Einzelner oder Teil einer
Wir-Gruppe, konstituiert wesentlich das eigene Selbstverständnis – »wir sind, was
wir erinnern«. Mythen, so schreibt Assmann, sind die auf die kollektive Ebene trans-
formierten inneren »life stories«, also Geschichten, aus denen Wir-Gruppen ihre
Identität speisen.137
Einen Sonderfall gedächtnisgeschichtlichen Vorgehens bildet das Aufspüren ver-
schütteter Erinnerungen. Auch unangenehme Ereignisse der Vergangenheit werden
im kollektiven Gedächtnis gespeichert, allerdings in verdrängter Form. Sie verwei-
len also im Unbewussten und können in Konfrontation mit ähnlichen Erfahrungen
wieder an die Oberfläche geraten. Assmann greift hier, wie bereits die Terminologie
nahelegt, auf Sigmund Freud zurück. Aus dessen Auseinandersetzung mit dem Mann
Moses und der monotheistischen Religion (1938)138 übernimmt Assmann das Modell la-
132 Assmann, J.: Moses (2007), 26.
133 Ebd.
134 Ebd., 33.
135 Ebd.
136 Ebd.
137 Ebd., 33 f.
138 Freud, S.: Moses (2006).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353