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45Theoretische
Vorüberlegungen
tenter Erinnerung. Ihm zufolge können verdrängte Gedächtnisinhalte nach einer
Latenzphase im Unbewussten wiederkehren und »bei ihrer Wiederkehr so mächtige
Wirkungen entfalten, [dass sie] die Massen in ihren Bann zwingen«139.
Vielfach wird im Kontext solcher kollektiven Erinnerungsphänomene der Begriff
des kollektiven Traumas gebraucht.140 Traumata treten auf, wenn Menschen mit Si-
tuationen konfrontiert werden, die sie als lebensbedrohend wahrnehmen und die
auftretenden überwältigenden Gefühle von Hilflosigkeit und Angst nicht zeitgleich
und in weiterer Folge auch nicht über einen längeren Zeitraum verarbeiten kön-
nen.141 In dieser Arbeit interessiert besonders die Frage nach der Funktion kollekti-
ver Traumata, die ihren wichtigsten Vordenker ebenfalls in Sigmund Freud hat. Als
kollektives Trauma wird ein Schockzustand verstanden, den ein Ereignis bei einer
Gesellschaft oder Teilen dieser auslösen kann. Solche Ereignisse können etwa krie-
gerische Auseinandersetzungen, ethnische Säuberungen oder erzwungene Migration
sein, ebenso Terroranschläge, Revolutionen oder einschneidende Wirtschaftskrisen.
In der soziologischen Theorie geht man mitunter so weit, auch der radikalen Infra-
gestellung kollektiver Identitätsbausteine, bspw. durch »opening secret archives and
revealing the truth about the past« oder durch eine »revisionist interpretation of
national heroic tradition«142 die Qualität eines kulturellen Traumas zuzusprechen. In
Kärnten werden die Themen Trauma und kulturelles Gedächtnis seit einigen Jahren
besonders im Hinblick auf die Minderheitenfrage und bspw. die unterschiedlichen
Narrative zur Verfolgung und Deportation der Kärntner Slowenen und Slowenin-
nen im Zweiten Weltkrieg untersucht.143 Im ersten Hauptteil dieses Buches soll ge-
zeigt werden, dass vielen Kärntnern und Kärntnerinnen auch in einer weiter zurück-
liegenden Epoche traumatisierende Erlebnisse widerfahren sind, und zwar in jener
des konfessionellen Absolutismus. In der Allianz von Staat und Kirche erfuhren viele
Anhänger und Anhängerinnen des Protestantismus Verfolgung und Zwangsbekeh-
rung, im Falle der Deportationspolitik unter Maria Theresia das Auseinanderreißen
139 Ebd., 105.
140 Der Traumabegriff wurde in den letzten Jahrzehnten von seiner psychologischen und medizinischen
Bedeutung her ausgeweitet und im kulturwissenschaftlichen Diskurs stark rezipiert. Dies führte zu
einem inflationären Gebrauch des Begriffs, weshalb seine Verwendung im Kontext dieser Arbeit auch
mit gewisser Zurückhaltung vorgetragen wird. Sztompka, P.: Cultural Trauma (2000), 449 f.
141 Hantke, L./Görges, H.-J.: Handbuch Traumakompetenz (2012), 53 f.
142 Sztompka, Piotr : Cultural Trauma, 2000, 452.
143 Wutti, D.: Verdrängung (2015), 235 f.; vgl. ebenso Wutti, D.: Drei Familien (2013). Auch Wutti
spricht übrigens von einem offiziellen Narrativ und mehreren inoffiziellen »Gegenerinnerungen«
in Kärnten, macht dies jedoch vor allem an den Familienerinnerungen – also dem »kommunikati-
ven Gedächtnis« – von Kärntner slowenischen Familien fest. Vgl. auch Schliefnig, H.: Meine Mama
(2013).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353