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47Theoretische
Vorüberlegungen
Gedächtnis durch die Schaffung von Symbolen oder Riten handelt es sich ja um
unbewusste, nicht direkt zugängliche, eben latente Gedächtnisinhalte.146 Assmanns
Ansatz geht hier davon aus, dass kulturelle Überlieferungen wie ein Archiv wirken,
das auch Dinge aufbewahrt, die »verschüttet« sind und wie durch eine gleichsam ar-
chäologische Tiefengrabung wieder an die Oberfläche transportiert werden können.
»Das kulturelle Gedächtnis ist nicht nur eine mémoire volontaire, sondern auch eine
mémoire involontaire, in seinen Tiefenschichten ist vieles enthalten, das nach langer
Latenz wieder wirksam werden und die Menschen heimsuchen kann.«147
Die mémoire involontaire ist im Grunde habitualisiertes Gedächtnis. In den Ha-
bitus übergegangene Gedächtnisinhalte werden nicht notwendig erinnert, aber auch
nicht vergessen. Sie sind selbstverständlich geworden, wie die Bewegungen eines
Schwimmers, der sich nicht mehr an das Erlernen des Schwimmens erinnern muss.
Sie sind zu habituellen Dispositionen geworden und können auch nach Jahren der
Nichtaktivierung wieder abgerufen werden. Das »habituelle Gedächtnis« ist also
ein dem Körper eingezeichnetes.148 Es bildet sich also im Habitus ab, gräbt sich im
Affekthaushalt ein und kann bei Konfrontationen mit ähnlichen Situationen (man
denke an olfaktorische Eindrücke, die sich unwillkürlich mit vergangenen Erlebnis-
sen verbinden) wieder reaktiviert werden. Der damit verbundene Gefühlszustand,
gespeist aus dem Affekthaushalt, kann unterschiedliche Qualitäten haben. Bei dem
vorliegenden Untersuchungsgegenstand Kärnten ist es vor allem die Qualität des
Misstrauens gegenüber äußeren Autoritäten wie Staat und Kirche, die sich kollektiv
eingegraben hat. Tritt man in Kontakt mit Vertretern solcher Instanzen – man denke
an Behördengänge oder unfreiwillige Beichtgespräche –, können traumatisierende
Ereignisse der Vergangenheit unwillkürlich eine Atmosphäre des Misstrauens her-
stellen und in manchen Fällen körperliche Reaktionen hervorrufen, etwa Angstreak-
tionen wie das gefühlte Zuschnüren der Kehle, heftiges Schwitzen, Überschlagen der
Stimme usw. Solche Affektzustände können über den Sozialisationsprozess schließ-
lich generationenübergreifend weitergegeben werden.149
146 Freuds These zur Latenz kollektiver Traumata kommt nicht ohne Bezug auf biologisch vererbbare
Dispositionen aus, vertritt also einen Psycho-Lamarckismus. Freud, S.: Moses (2006), 98–101. Ass-
mann distanziert sich hiervon : »Meine Kritik an Freud ist, daß er einen zu schwachen Begriff von
kulturellem Gedächtnis oder kulturellem Archiv hatte, wenn er es auf die mémoire volontaire der
bewußt weitergegebenen Mitteilungen beschränkt«. Assmann, J.: Unterscheidung (2003), 133.
147 Ebd., 134.
148 Hahn, A.: Körper und Gedächtnis (2010), 97 f.
149 Neuere Forschungsansätze aus den psychologischen und neurobiologischen Wissenschaften bestä-
tigen die starken Wechselwirkungen zwischen sozialer Umwelt und biologischer Ausstattung des
Menschen im Hinblick auf die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Als Kind traumatisierter
Eltern geboren zu werden, erhöht die Wahrscheinlichkeit, selbst mit traumatisierenden Ereignissen
konfrontiert zu werden, deutlich. Ein biologischer Erklärungsansatz geht davon aus, dass traumati-
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353