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Einleitung50
Mitunter kann eine ausgewählte Darstellung oder eine Textpassage eine Situation
oder einen Sachverhalt lebendiger und aufschlussreicher beschreiben als der oder die
sozialwissenschaftlich interessierte Historiker oder Historikerin.156 Kunst und Lite-
ratur können Gefühlsstrukturen sichtbar machen, die einer nüchtern-deskriptiven
Analyse verborgen bleiben. Sie erlauben es außerdem, die Innenperspektive der Li-
teraten und Literatinnen und ihre Empfindungswelt auszuwerten.157
Drei Beispiele sollen genügen, um die Vorteile einer solchen Auseinandersetzung
mit Kunst und Literatur zu skizzieren. Ein erstes Beispiel zeigt einen eminent kir-
chen- und obrigkeitskritischen Holzschnitt aus dem Jahr 1928 (vgl. Abb. 4). Es mag
zunächst irritieren, dass der Künstler Switbert Lobisser (1878–1943) Benediktiner-
mönch im Stift St. Paul im Lavanttal war. Bei genauerer Beschäftigung mit Lobissers
Biographie erkennt man aber, dass der Kärntner Künstler nie einen rechten Zugang
zum klösterlichen Leben fand. Er genoss zwar die Unterstützung seiner künstleri-
schen Laufbahn durch den Abt seines Klosters – und blieb ihm dafür auch bis ans
Lebensende dankbar –, fühlte sich aber dem Bauernstand und dem ländlichen Leben
stets tiefer verbunden als dem Klerus. Seine hier bereits angedeutete Kirchenskep-
sis sollte unter den Repressionen des »Christlichen Ständestaates« die Hinwendung
zum Nationalsozialismus begünstigen und mit dem »Anschluss« Österreichs offen
zutage treten.
Bei Lobissers Bauernspruch handelt es sich um den Typus eines »Dreiständebil-
des«, wie es schon aus dem Umfeld der Französischen Revolution bekannt war. Lo-
bisser hat mehrere Varianten davon kreiert. Der Bildinhalt spiegelt bereits einige
typische Merkmale der »Kärntner Seele« bzw. des Kärntner Habitus wider. Der
Bauernstand und die »einfachen«, hart arbeitenden Menschen am Land erscheinen
in Lobissers Kunst immer als Idealgestalten : bodenständig, widerständig und mora-
lisch jenen überlegen, die sie unterdrücken. Trotzig und triumphierend erinnert der
Bauer im mittleren Bildteil Papst und Kaiser daran, dass deren Macht im Grunde
auf seinem Fleiß und auf Gottes Gunst beruhe. Dass ihm und nicht Papst und Kai-
ser diese Gunst zufällt, wird durch den im Hintergrund des mittleren Bildteiles auf
einem Kärntner Bauernhaus thronenden Gottvater klar. Die Darstellung des Bauern
mitsamt Haus und Hof unterscheidet sich von jenen des Papstes (rechts) und des
Kaisers (links) in mehreren augenscheinlichen Details. Während der geistliche und
der weltliche Machthaber überdimensional am Bildrand dargestellt sind, sind die
Größenverhältnisse in der Bildmitte realistisch. Winzig klein sind die Untertanen
unterhalb der kaiserlichen Burg und der Kirche. Papst und Kaiser blicken über sie
hinaus und auch von den Bildbetrachtenden weg. Bauernfamilie und Gesinde hin-
gegen blicken die Betrachtenden direkt und aufrecht an. Der am Bauernhaus thro-
156 Ebd., 27–29.
157 Ebd., 301.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353