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Einleitung52
Wie dieses Beispiel bereits anzudeuten vermag, verfügen Künstler und Künst-
lerinnen in der Regel über ein ausgeprägtes Sensorium für soziale Vorgänge und
Mechanismen. Neben bildlichen Darstellungen können besonders literarische Texte
mit dichterischer Freiheit, dramatischer Wortgewalt oder subtiler Schärfe Verstri-
ckungen des alltäglichen Lebens deutlicher erfassbar machen, als es wissenschaftli-
chen Texten möglich ist. Als Beispiel für eine derartige Begabung soll der Beginn
von Christine Lavants Erzählung Das Wechselbälgchen (entstanden zwischen 1945 und
1949) wiedergegeben und analysiert werden. Die inhaltliche Dichte der folgenden
Passage rechtfertigt ein längeres, zusammenhängendes Zitat.
Wrga die Einäugige hatte ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüsste
und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen. Ja, sie fand diesen Namen
überaus schön, obgleich der Duldiger-Pfarrer gesagt hat, dass der Name eigentlich eine
Strafe sei weil die verräterische Königin so geheißen hat und wenn es ein Bub wäre müsste
es nach dem verbrecherischen Kaiser ›Napoleon‹ heißen. Nein, er kannte kein Erbarmen,
wo es um eine große Sünde ging und ein Kind bekommen, zu dem man keinen Vater hat,
ist eben eine große Sünde. Nein, er hatte auch bei Wrga keine Ausnahme gemacht, wenn
sie auch ein gläsernes Auge hatte, das größer und viel schöner als das andere war. Er war
gerecht und wenn er mit seiner eigentümlichen Kappe durch das Dorf ging legte er im-
mer die Hände auf den Rücken, verstrickte sie dort zu einem Knäuel, so dass er sie beim
besten Willen nicht mehr von einander und nach vorne bringen konnte, wenn etwa Kinder
daherkamen und ihm diese Hände hätten küssen wollen. Dorfkinder haben ab und zu noch
solche unbegreiflichen Einfälle, nichtwahr, und vielleicht denken sie an bunte Bildchen
dabei. Und wie leicht könnte es dann sein, dass unter diesen Kindern welche dabei sind,
denen man es zuerst gar nicht anmerkt und die vielleicht gar nicht viel schmutziger sind
und die zum Schluss dann doch ganz unschuldig sagen, dass sie Zitha oder Napoleon hei-
ßen. Davor hatten die Hände des Herrn Pfarrer Angst und so wollten sie lieber ganz und
gar ungeküsst bleiben als solches auf sich zu nehmen. Aber deshalb brauchte es noch immer
nicht wahr zu sein dass er, – wie die Leute sagten – Vögel unter seiner schwarzen Kappe
hatte. Er war einfach gegen die Sünde und für die Gerechtigkeit und wenn er allein herum
ging beredete er das mit sich und wurde auch manchmal ein bisschen laut dabei und dachte,
er sei auf der Kanzel – mein Gott, was ist auch dabei ? Ein Pfarrer kann schließlich reden
wo und wann er will und wenn die Leute dann behaupten, er hätte auch noch ein Spinnrad
unter seiner Kappe, so war das nicht nur erlogen, sondern auch unmöglich. Aber so sind
die Menschen. Da gehen sie her und streuen unwahre Reden über einen aus und wenn sie
dann einmal so oder so in Not sind, dann gehen sie wohl am Ende gerade zu diesem einen,
von dem sie eben noch Ungeheures behauptet haben und bekommen gleich im Voraus
schon beim Frühbirnenbaum vor dem Pfarrhof Tränen in die Augen und Kummerfalten
um den Mund und sagen drinnen dann Hochwürden hin und Hochwürden her und wie
schön er beim letzten Hochamt wieder gesungen hätte, so recht zum Herzergreifen und
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353