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53Theoretische
Vorüberlegungen
wenn sie dann fortgehen, haben sie das Geld für einen Anzug oder eine Nähmaschine oder
was sie halt sonst unbedingt gebraucht haben. Und oft ist es sogar so, dass von dem Geld
ausgerechnet eine Zitha oder ein Napoleon ein Paar Schuhe bekommt zum Schulanfang.
Denn die Gerechtigkeit hat zwei Seiten und Willibald der Pfarrer muss mit seinen Hän-
den immer wieder daran herumdrehen und dabei werden sie alt und fangen an zu zittern.
Seine Kappe und sein Anzug werden dünne und sein Atem kurz. Nur bei der Taufe wagt er
nicht an der Gerechtigkeit zu drehen, da bleibt er unerbittlich, auch wenn es noch solche
Kämpfe gibt.159
Lavants Wechselbälgchen ist die tragische Geschichte von einem unehelichen Kind,
dessen geistige und körperliche Behinderung es nicht nur zu einem Außenseiter in
der Dorfgemeinschaft abstempelt, sondern dessen Stigmatisierung durch den Aber-
glauben verstärkt wird, dass böse Geister das eigentliche Kind der Magd Wrga ge-
stohlen und durch den Balg »ausgewechselt« hätten, was im Allgemeinen Unglück
über das Dorf bringe. Die stets kränkliche Schriftstellerin aus dem Lavanttal ließ
in ihre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Erzählung nicht nur
autobiographische Erfahrungen als Außenseiterin einfließen, sondern beschreibt mit
subtilem Blick die sozialen Verhältnisse in ihrer Heimat der Zwischenkriegszeit.160
Das Schicksal des Mädchens Zitha scheint bereits in der Wiege vorherbestimmt
zu sein. Als uneheliches Kind einer Dienstmagd bekommt sie die »Pastoralmacht«
des Dorfpfarrers bereits bei der Namensgebung, bei der die Pfarrer lange Zeit mit-
zureden hatten, zu spüren.161 In ihr kommen zwei Erinnerungstraditionen des Lan-
des bzw. der Kirche zum Vorschein : Die »verräterische Königin« steht für die letzte
Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, Zita von Bourbon-Parma (1892–
1982). Als Ehefrau Karls I. unternahm sie in der »Sixtus-Affäre« geheime Friedens-
verhandlungen, was ihr nach Scheitern der Pläne als Verrat angelastet wurde. Im
Subtext schwingt wohl auch ein wenig Wehmut über den Untergang der Monarchie
und des Hauses Habsburg mit, das für die katholische Kirche eine wichtige Stütze
war. Die zweite Erinnerungstradition spielt auf die Franzosenzeit 1797 bis 1813 an,
in der die napoleonischen Soldaten nicht ausschließlich Not und Verderben, son-
dern – vor allem in den Augen der Eliten – auch die Lockerung der Sitten gebracht
hatten.
159 Lavant, C.: Das Wechselbälgchen (2012), 5–7.
160 Burz, U.: Dreschflegel (2006) ; Amann, K.: Nachwort (2012), 71–75 und 86–99.
161 Hinter dem »Duldiger-Pfarrer« – das Wort »Duldig« ist die volkstümliche Bezeichnung der Ort-
schaft St. Ulrich unweit von Lavants Heimathaus – steht den Recherchen von Franz Bachhiesl zu-
folge der Jesuitenpater Konstantin Haasler, dessen Erscheinungsbild auf den hier beschriebenen Kle-
riker passte. Bachhiesl, F.: Christine Lavant (2015), 114.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353