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Einleitung54
Gerade im Fall der Sittenzucht wird der Kleriker in Lavants Erzählung als erbar-
mungslos beschrieben. Doch diese Erbarmungslosigkeit illustriert eben jenes sozi-
algeschichtliche Problem des nachhaltigen Scheiterns sexueller Disziplinierung der
mit strengen Reglementierungen bedachten Dienstbotenschicht seitens der Kirche,
das langfristig zu einer Lockerung der Kirchenbindung selbiger führte, wie weiter
oben bereits ausgeführt wurde.
An diesem literarischen Beispiel zeigt sich der qualitative Aspekt des Phänomens,
das mit steifer sozialwissenschaftlicher Terminologie und statistischem Datenmate-
rial zwar stichhaltig dargestellt werden, aber niemals jene Tiefenschärfe erreichen
kann, die ein Prosatext vermittelt.162 So schafft es Lavants Erzählung beim Weiterle-
sen auch, die Eigentümlichkeiten des Klerikers und seine Stellung in der Figuration
des Dorfes lebendig werden zu lassen. Überzeugt von der Gerechtigkeit seines Han-
delns verabscheut er die Sünde des außer- und vorehelichen Verkehrs so sehr, dass
ihm bei der Vorstellung, ein unehelich gezeugtes Kind könnte seine Hände küssen,
Ekel erfasst – ausgedrückt durch den »Schmutz«, der diesen Kindern anhafte, auch
wenn man ihn vielleicht gar nicht gleich wahrnehme. Dann gewährt der Text Ein-
blick in die Mechanismen des Dorfklatsches, in dem man sich über die Eigenart des
Pfarrers lustig macht, seine Selbstgespräche als Hinweis darauf deutet, dass er – wie
man landläufig sagt – »einen Vogel habe« oder »spinne«.
In diesem Dorf ist nicht nur das Wechselbälgchen ein Außenseiter, sondern auch
der Pfarrer. Mit satirischem Unterton identifiziert Lavant zugleich aber auch die
Dorfbewohner als Heuchler, die für die karitative Zuwendung der Kirche ihre ge-
spielte Frömmigkeit und Untertänigkeit gegenüber dem Pfarrer zur Schau stellen.
Der hier zum Ausdruck gebrachte oberflächliche »Schaukatholizismus«163 der
Landbevölkerung wird in bedrückender Weise auch in Peter Handkes Wunschloses
Unglück (1972) beschrieben. Der aus Griffen stammende und zu Weltruhm aufge-
stiegene Schriftsteller verarbeitet in dieser Erzählung den Suizid seiner Mutter, einer
Kärntner Slowenin. Die Stärke von Handkes Text für die vorliegende Untersuchung
liegt in der Illustration der (kirchlich-religiösen) Sozialisation seiner Mutter in der
Zwischenkriegszeit, die Handke in düsterer Wortgewalt wiedergibt :
›Schämst du dich nicht ?‹ oder ›Du sollst dich schämen !‹ war schon für das kleine und vor
allem für das heranwachsende Mädchen der von den andern ständig vorgehaltene Leitfa-
den gewesen. Eine Äußerung von weiblichem Eigenleben in diesem ländlich-katholischen
Sinnzusammenhang war überhaupt vorlaut und unbeherrscht.164
162 Vgl. dazu auch die Beispiele Innerhofer und Rosegger bei Kuzmics, H./Mozetic, G.: Literatur (2003),
285.
163 Kuzmics, H./Axtmann, R.: Autorität (2000), 149.
164 Handke, P.: Wunschloses Unglück (2014), 26.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353