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Einleitung56
tertanenmentalität und Beamtenhabitus ebenso weiter wie die ständestaatliche Idee
in Aspekten der Sozialpartnerschaft.172
Das dichte Netz sozialer Kontrolle ist aber keineswegs nur »von oben« – also von
Kirche und Staat – gesteuert, sondern wird auch »von unten« mitgetragen. Sozial
erwünschtes Verhalten wird vorgelebt und unerwünschtes Verhalten sanktioniert –
im harmlosesten Fall durch das Ignorieren individueller Bedürfnisse.
Die Lebenslust, ein Tanzschritt bei der Arbeit, das Nachsummen eines Schlagers, war eine
Flause im Kopf und kam einem, weil niemand darauf einging und man damit allein blieb,
auch bald selber so vor. Die anderen lebten ihr eigenes Leben zugleich als Beispiel vor,
aßen so wenig zum Beispielnehmen, schwiegen sich voreinander aus zum Beispielnehmen,
gingen zur Beichte nur, um den zu Hause Bleibenden an seine Sünden zu erinnern.173
Die sorgsam kultivierte Untertänigkeit und mit ihr die Angst vor der Normabwei-
chung, dieser zum Selbstzwang gewordene Fremdzwang, haben in Handkes Erzäh-
lung die Nivellierung jeglicher Individualität zur Folge.
Es gab nichts von einem zu erzählen ; auch in der Kirche bei der Osterbeichte, wo wenigs-
tens einmal im Jahr etwas von einem selber zu Wort kommen konnte, wurden nur die
Stichworte aus dem Katechismus hingemurmelt, in denen das Ich einem wahrhaftig frem-
der als ein Stück vom Mond erschien. Wenn jemand von sich redete und nicht einfach
schnurrig etwas erzählte, nannte man ihn ›eigen‹. Das persönliche Schicksal, wenn es sich
überhaupt jemals als etwas Eigenes entwickelt hatte, wurde bis auf Traumreste entpersön-
licht und ausgezehrt in den Riten der Religion, des Brauchtums und der guten Sitten, so
daß von den Individuen kaum etwas Menschliches übrigblieb ; ›Individuum‹ war auch nur
bekannt als ein Schimpfwort.
Der schmerzensreiche Rosenkranz ; der glorreiche Rosenkranz ; das Erntedankfest ; die
Volksabstimmungsfeier ; die Damenwahl ; das Bruderschafttrinken ; das In-den- April- Schi-
cken ; die Totenwache ; der Silvesterkuß : – in diesen Formen veräußerlichten privater Kum-
mer, Mitteilungsdrang, Unternehmungslust, Einmaligkeitsgefühl, Fernweh, Geschlechts-
trieb, überhaupt jedes Gedankenspiel mit einer verkehrten Welt, in der alle Rollen
vertauscht wären, und man war sich selber kein Problem mehr.174
Die Welt, in der Handkes Mutter sozialisiert wurde, ist zwar vom religiösen Brauch-
tum und seinen kirchlichen Anknüpfungspunkten geprägt. Die vom Kärntner
Schriftsteller skizzierte Religiosität ist allerdings eine oberflächliche, eine formel-
172 Menasse, R.: Überbau (1997), 13–30.
173 Handke, P.: Wunschloses Unglück (2014), 26.
174 Ebd.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353