Seite - 70 - in Die Kirche und die »Kärntner Seele« - Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
Bild der Seite - 70 -
Text der Seite - 70 -
Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten70
In diesem Kontext sind auch die zahlreichen frommen Werke und Stiftungen als
Versuch der Wohlhabenden zu sehen, sich des ewigen Heils zu versichern und der
Angst vor dem Jüngsten Gericht zu begegnen. Im Kärnten der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts »eskalierte« die Zahl an Stiftungen von Messen und Jahrtagen so-
wie von Schenkungen an Klerus und Kirche.60
Eine wertvolle Quelle für die religiöse Stimmung jener Zeit bieten die Reiseta-
gebücher des Paolo Santonino, der als Sekretär des Bischofs von Caorle mit seinem
Herrn zwischen 1485 und 1487 die aquileischen Gebiete südlich der Drau bereiste.
Der Bischof bekam vom Patriarchen den Auftrag, von den Türken verwüstete Kir-
chen und Altäre neu zu weihen. Der Weg führte die Reisenden zunächst von Ost-
tirol ins Gailtal, dann ins Rosental und nach Villach, schließlich aber in die Un-
tersteiermark im heutigen Slowenien.61 Santonino zeichnete seine Erlebnisse in
bunten Farben und mit wohlwollender Aufgeschlossenheit für Land und Leute auf.
Neben Schilderungen prachtvoller und üppiger Mahlzeiten, schöner Frauen und
gastfreundlicher adeliger Herren wird auch das religiöse Leben in überaus ideali-
sierender Weise beschrieben und die zahlreichen liturgischen Feierlichkeiten durch
eine rege Anteilnahme des Volkes charakterisiert. Stellenweise wird Santonino gar
euphorisch ob der herausragenden Frömmigkeit der Südkärntner Bevölkerung :
Viel Volk nahm teil in gewohnter Hingabe und dauerndem Stillschweigen, wobei man nicht
einmal ein Kind sich hat vom Platz rühren gesehen. Es sollen sich also die Italiener schä-
men, und in sich gehen sowohl wegen ihres ehrfurchtslosen Benehmens als auch wegen
ihrer geringen Andacht, und sie sollen religiöse Zucht von den Barbaren lernen. […] An
den einzelnen Feiertagen wird vor dem Volke in deutscher Sprache gepredigt […]. Zur
Predigt kommen alle und hören das Wort Gottes mit großer Aufmerksamkeit. Nach der
Predigt singen Männer und Weiber mit lauter Stimme ›veni s. spiritus‹, dann gehen sie zum
Opfern, und der Vikar kriegt entsprechend der Menge des Volkes viel Geld zusammen. […]
Die Geistlichen dieser Stadt sind genügend gebildet und vor allem ehrenwert. Die Adeli-
gen aber, die Bürger und die gewöhnlichen Leute gehen ohne Unterschied täglich in die
Kirche und wohnen mit solcher Hingebung und Stille der heiligen Handlung bei, daß man
sie alle für Karthäuser halten könnte.62
60 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 645–651. Angesichts der zweifellos hoch einzuschätzenden
Tugendhaftigkeit solcher Zuwendungen darf nicht übersehen werden, dass soziale Mildtätigkeit auch
Abhängigkeiten schafft. Im Grunde gleicht dieses Beziehungsmuster jenem Autoritätsverhältnis, in
dem der Patrimonialherr aus einem Akt der Fürsorglichkeit heraus seinen Untertanen Gnade gewährt.
Diese Beziehungsform sollte sich im Kärntner Habitus im Zuge des Staatsbildungsprozesses der Neu-
zeit bis in die Gegenwart einprägen.
61 Santonino, P.: Die Reisetagebücher (1947), 5 f.
62 Ebd., 98 f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353